Leseprobe

Der Waffenstillstand von Deulino (1618/19) Erfolg oder Niederlage der polnisch-litauischen Republik im Kampf um die Hegemonie in Osteuropa im 16. und 17. Jahrhundert KONRAD BOBIATYŃSKI Der Vertrag, mit dem in Deulino der seit 1609 andauernde Krieg zwischen Polen-Litauen und dem Moskauer Staat zu Ende ging, setzte zweifellos eine überaus wichtige Zäsur in der Rivalität beider Staaten um die Vormachtstellung im neuzeitlichen Osteuropa. Von Historiker*innen wird er allerdings seit Langem recht kontrovers bewertet. Einerseits lässt sich nicht übersehen, dass Polen-Litauen mit den hinzuerworbenen Gebieten sein Territorium auf fast eine Million Quadratkilometer erweitert und so die größte Ausbreitung in seiner bisherigen und auch späteren Geschichte erreicht hat. Die beachtlichen Erfolge, mit denen es den zweiten – nach den Kriegen unter Stephan Báthory (pol. Stefan Batory) (1577–1582) – Waffenkonflikt mit dem Zaren beendete, bestärkten die politische und militärische Dominanz der Republik über ihren östlichen Nachbarn. Andererseits sind Meinungen zu hören, mit der Unterzeichnung dieses Vertrags seien in der Praxis die zumindest seit 1600 immer wieder neu geschmiedeten Pläne verworfen worden, eine polnisch-litauisch-moskauische Union zu Bedingungen der polnischen Wasas zu gründen. Mehr noch: Der polnische Kronprinz Władysław, der nach dem im August 1610 von dem Feldhetman der Krone, Stanisław Żółkiewski, und den Bojaren ausgehandelten Vertrag der erwählte Zar von Russ- land war, verlor nun jegliche Chance darauf, den Moskauer Thron tatsächlich zu besteigen. Man kann sogar die These riskieren, Polen-Litauen habe sich in Deulino mit der Wiedererlangung von Smolensk – der Schlüsselfestung im Grenzland, welche die wichtigste befestigte Anlage auf der Dnepr-Linie darstellte – zufriedengegeben und auf eine weitere expansive Politik im Osten verzich- tet. Der Zarenstaat hingegen gewann die Zeit, die er brauchte, um nach der größten Krise in seiner Geschichte (der sog. großen Smuta, »Zeit der Wirren«) seine inneren Strukturen und das Militär- potenzial wiederaufzubauen und sich auf die nächste Etappe des Kampfes um die Hegemonie in diesem Teil des Kontinents vorzubereiten. Bevor wir fortfahren, soll noch erläutert werden, warum der Waffenstillstand von Deulino der wohl einzige diplomatische Vertrag ist, der in der Literatur in doppelter Datierung – 1618/19 – geführt wird, und zwar völlig zu Recht. Denn nach dem im Moskauer Staat geltenden julianischen Kalender wurde der Vertrag am 1. Dezember 1618 unterzeichnet und sollte am 25. Dezember in Kraft treten. In Polen-Litauen aber galt bereits der gregorianische Kalender, der im 17. Jahrhundert

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