Leseprobe

2. Die Umwelt und der methodo­ logische Pluralismus in Europa Die Geschichtsschreibungen verschiedener europäischer Länder können in Bezug auf das historische Verständnis der natürlichen Umwelt und ihren Platz im menschlichen Leben auf eigene reiche Tra- ditionen verweisen. Bevor wir anfangen, sie zu besprechen, sollte erwähnt werden, dass ein Vergleich der amerikanischen mit der europäischen Historiographie aufgrund der grundlegenden Unterschiede eine höchst anspruchsvolle Aufgabe darstellt. Obwohl in den Vereinigten Staaten ungefähr gleich viele Menschen wie in Westeuropa leben, handelt es sich um ein Land, an dessen Universitäten eine Sprache gesprochen wird und sich eine akademische Gemeinschaft gebildet hat, die sich – verglichen mit Europa – durch eine viel höhere Mobilität auszeichnet. All das trägt zur weitreichenden Verein- heitlichung der Standards in den einzelnen wissenschaftlichen Disziplinen bei, was auf unserer Seite des Atlantiks in dieser Weise nicht existiert. Die universitäre Welt Europas, die quantitativ die US- amerikanische übertrifft, setzt sich aus vielen verschiedenen akademischen Traditionen zusammen, die sich sowohl in der Sprache, aber auch in der Art und Weise, wie die Disziplinen strukturiert sind, unterscheiden. Dies führt zu einer weitaus größeren Vielfalt und einem ausgeprägteren Widerstands- verhalten gegen die Vereinheitlichung von Standards, die auf dem gesamten Kontinent gelten sollten. Das hat zur Folge, dass dieselben historiographischen Ansätze und Forschungsprobleme je nach Land und Sprache unterschiedlich wahrgenommen und bewertet werden. Statt einer Uniformität, die eine Quelle der Stärke sein kann, dominieren in Europa der Dialog, die Pflege lokaler Traditionen und die gegenseitige Durchdringung von Einflüssen mächtigerer Zentren sowie der Ideenaustausch auf inter- nationaler Ebene. Entscheidend wird der Unterschied zwischen den USA und Europa bei der Entwicklung neuer Wissenschaftszweige, die nicht zwingend in die Strukturen der heutigen europäischen Universitäten passen. Die Barrieren für neue (Teil-)Disziplinen sind viel höher, bis sie in ihrer Entwicklung einen kri- tischen Punkt erreicht haben, an dem sie von ihrer Wissenschaftsgemeinschaft akzeptiert werden. Auf diesen Zusammenhang verweisen die europäischen Umwelthistorikerinnen und -historiker seit vielen Jahren. Dass dieses Problem nach wie vor existiert, zeigt sich an der immer noch sichtbaren Vielfalt der in Europa verwendeten Ansätze zu Mensch-Natur-Beziehungen, die den Dialog zwischen Forschenden aus verschiedenen Ländern oft erschwert. Das lässt sich zum Beispiel bei den Kongressen der European Association for Environmental History beobachten, die, obwohl sie inzwischen die Grö- ßenordnung amerikanischer Kongresse erreichen, in der Tat manchmal wie aneinandergereihte Mini- Kongresse wirken, die jeweils Forschende aus denselben Ländern oder Sprachräumen versammeln.48 Beginnen wir unsere Reise entlang der europäischen Traditionen in der Umweltgeschichte mit Polen, wo sich schon sehr früh ein Ansatz entwickelte, der sich systematisch mit ökologischen Frage- stellungen auseinandersetzte. Der erste polnische Historiker, der sich ernsthaft mit der Bedeutung 48 Winiwarter, Verena, et al.: Environmental History in Europe from 1994 to 2004. Enthusiasm and Consolidation. In: Environment and History 10 (2004), 501–530.

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