Leseprobe

q 34 Ein vormoderner Staat als sozioökologisches System Franciszek Bujak schuf das Fundament für die Historische Geographie, eine Disziplin, die sich in Polen bis heute weiterentwickelt. Sie ist zwar mit der Umweltgeschichte verwandt, doch gibt es zwischen den beiden Disziplinen auch gewichtige Unterschiede. In Polen liegt einer von ihnen vor allem in der Wahl des Untersuchungsgegenstands: Während die Umweltgeschichte von der Annahme einer menschlichen Ökologie ausgeht und versucht, die Natur zu einem dem Menschen gleichbe- rechtigten Akteur der Zeitläufte zu machen, liegt der Fokus der Historischen Geographie mehr auf den Transformationen des Raums beziehungsweise der Siedlung und der natürlichen, sozialen und ökonomischen Landschaft in der Vergangenheit und Prozessen, die diese Räume auf die eine oder andere Weise geformt haben.53 Es handelt sich um verwandte Fragen, denn beide Disziplinen greifen auf die Erkenntnisse der jeweils anderen zurück und verwenden oft ähnliche Forschungsmethoden, um bestimmte Fakten zu ermitteln. Es sollte jedoch betont werden, dass der Zweck beider Disziplinen ein jeweils anderer ist. Deutlich wird dies, wenn man sich das größte aktuelle Forschungsvorhaben der polnischen Histori- schen Geographie vergegenwärtigt: Es handelt sich hierbei um den monumentalen Historischen Atlas Polens, der amHistorischen Institut der Polnischen Akademie der Wissenschaften von Forscherinnen und Forschern aus vielen verschiedenen Städten vorbereitet wird. Ziel dieses Atlas ist es, die detail- lierten Erkenntnisse über den Raum Polens in der Vergangenheit zusammenzustellen. Darunter fal- len sowohl vom Menschen geschaffene Landschaften, Städte, Kirchen und Straßen als auch Natur- phänomene wie Wälder und Flüsse. Die Ergebnisse dieses Projekts finden ihren Ausdruck in Form einer Karte und einer geographischen Datenbank. Im Fall der Umweltgeschichte würden neue »revi- sionistische« Narrationen über die Vergangenheit Polens entstehen, die die durch den Atlas rekons- truierte Umwelt in den Vordergrund der historischen Prozesse rücken würden.54 Auch in anderen europäischen Ländern wird die Abgrenzung der Historischen Geographie zur Umweltgeschichte aufrechterhalten. Dies gilt selbst für Frankreich, wo die Entwicklung der Histori- schen Geographie, oder der geographischen Geschichte, untrennbar mit der Annales -Schule ver- bunden ist, die für die erste Generation der US-amerikanischen Umwelthistoriker*innen der 1970er Jahre eine der wichtigsten Inspirationsquellen war.55 Die Nouvelle Histoire aus Frankreich verlor aber für die amerikanische Umweltgeschichte bereits in der nächsten Dekade ihre Relevanz, als sie ihre eigenen historiographischen Ansätze entwickelte und ihre Position in den US-amerikanischen Geschichtswissenschaften festigte. Der methodische Ansatz der Annales -Schule blieb jedoch für europäische Historikerinnen und Historiker, die sich der Erforschung vergangener Mensch-Tier-Bezie- 53 Tyszkiewicz, Jan: Geografia historyczna. Zarys problematyki [Historische Geographie. Grundlinien und Probleme] (Nauki Pomocnicze Historii. Seria Nowa/Instytut Historii PAN). Warszawa 2014. 54 Eine weitere Tradition, die in Polen auf Forschungsansätze, die sich der Geschichte der Umwelt widmeten, inspi­ rierend wirkte, war der Marxismus, der in den 1960er und 1970er Jahren in einen fruchtbaren Dialog mit dem damals (wie heute) in Polen populären Annales -Ansatz trat, vgl. Kąkolewski, Igor: A Would-Be Science? A History of Material Culture in Poland Before and After the Year 1989. In: Cultural History in Europe. Institutions – Themes – Perspectives (Mainzer historische Kulturwissenschaften, Bd. 5). Hg. v. Jörg Rogge. Bielefeld 2011, 125–139. 55 Quennet, L’histoire environnementale [wie Anm. 12], 102–108. Begünstigt wurde dies durch die Tatsache, dass Braudels Buch in der englischen Übersetzung in den frühen 1970er Jahren erschienen ist, also in einer Zeit, in der Weg­ bereiter der Umweltgeschichte ein neues Forschungsfeld definierten und offen für vielfältige Inspirationen waren: Braudel, Fernand: The Mediterranean and the mediterranean world in the age of Philip II. New York 1972.

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