Leseprobe

2. Die Umwelt und der methodologische Pluralismus in Europa 35 q hungen widmeten, ein wichtiger Bezugspunkt, auch dann, wenn sie ihn kritisieren oder seine Gren- zen überwinden mochten. Die Bedeutung der Annales für die europäische Umweltgeschichte und Historische Geographie beruht vielleicht nicht so sehr auf der Richtung, die die Nouvelle Histoire (mit der Alltagsgeschichte, historischer Demographie und quantitativen Ansätzen) in der Nachkriegszeit eingeschlagen hat, sondern auf der Tatsache, dass ihre ursprüngliche Inspiration gerade die Geographie war. Diese Disziplin erlebte in Frankreich vor dem Ersten Weltkrieg ihre Blütezeit und war geprägt von Paul Vidal de la Blache, dem Schöpfer einer neuen Richtung der geographischen Forschung, die sich auf den Menschen und die Gesellschaft konzentrierte. Obwohl der geographische Aspekt der Menschheits- geschichte zu keiner eigenständigen Forschungsrichtung führte und die Verbindungen zur Geogra- phie von den mit der Zeitschrift Annales. Economies, sociétés, civilisations verbundenen Historiker*in- nen unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg abgebrochen wurden, entwickelte er sich zu dem Kennzeichen des neuen historiographischen Ansatzes.56 Lucien Febvre, der neben Marc Bloch als der Begründer der Annales- Schule gilt, war Vidal de la Blaches Schüler und interessierte sich sein Leben lang für geographische Fragen. Seine 1912 abge- schlossene Dissertation trug mit Philippe II et la Franche-Comté. Études d’histoire politique, religieuse et social eher einen traditionellen Titel, doch handelte es sich dabei nicht um eine politische Geschichte, sondern um eine regionalgeschichtliche Arbeit. Sie war direkt von soziogeographischen Studien über verschiedene Regionen Frankreichs inspiriert, die zur gleichen Zeit im Umfeld Vidal de la Blaches entstanden sind. Febvres Qualifikationsschrift begann mit einer ausführlichen geographi- schen Einführung, in der die verschiedenen Aspekte der Physischen Geographie der Untersuchungs- region erörtert wurden. Febvre verband also schon zu diesem frühen Zeitpunkt das traditionelle positivistische Interesse an der politischen Geschichte mit einem neuen geographischen Ansatz.57 Bald nach Abschluss seiner Doktorarbeit widmete er sich einer breiteren theoretischen Untersu- chung, in der er die Verflechtungen zwischen Geschichte und Geographie zum Thema machte. Dar- aus resultierte die erste zeitgenössische Einführung in die Historische Geographie, die einige Jahre nach dem Ersten Weltkrieg erschienen ist.58 Es war schließlich Febvres Einfluss, der Fernand Braudel dazu bewog, den Charakter seiner Doktorarbeit zu ändern. Aus der ursprünglichen Studie über die politische Herrschaft Philipps II. entstand eine Monographie, die sich der Geschichte der mediterranen Welt unter diesemMonarchen widmete.59 Braudels vielschichtiges Werk wurde über zwei Jahrzehnte geschrieben und erschien in zwei Auflagen. In späteren Jahren präsentierte der Autor verschiedene Interpretationen seiner Schrift, bei denen nicht ausgeschlossen werden kann, dass sie von seiner ursprünglichen Fassung weit abgewichen sind. Retrospektiv wird Das Mittelmeer und die mediterrane Welt in der Epoche 56 Coutau-Bégarie, Hervé: Le phénomène »nouvelle histoire«. Stratégie et idéologie des nouveaux historiens. Paris 1983, 57–66. 57 Burke, Peter: The French Historical Revolution. The Annales School, 1929–89. Stanford 1990, 12–16. 58 Febvre, Lucien: La terre et l’évolution humaine. Introduction géographique à l’histoire (Evolution de l’humanité). Paris 1922. 59 Braudel, Fernand: LaMéditerranée et lemondeméditerranéen à l’époque de Philippe II. Paris 1949. Deutsche Über­ setzung siehe ders.: Das Mittelmeer und die mediterrane Welt in der Epoche Philipps II. Frankfurt amMain 1992.

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