Leseprobe

6. Mögliche Auslöser des Wandels I: politische und wirtschaftliche Transformationen Kann man von einem »römischen sozioökologischen Modell« sprechen, das den Zusammenbruch der römischen Weltordnung am Ende der Antike überdauerte? Von einemModell, das mit politischer Identität, Staatsideologie, rechtlich-administrativem System und dem kulturellen Erbe Kriterien fest- legte, die den nachfolgenden Gesellschaften als Gradmesser für das »Römisch-Sein« galten und Rom als Stadt, Republik und Weltreich zum Ausgangspunkt ihrer eigenen Geschichte machten? In diesem Kapitel versuche ich, diese Frage bezogen auf die Gesellschaft, die neuzeitliche For- schende als eine byzantinische bezeichnen, zu beantworten. Es geht um die Menschen, die das mittelalterliche Oströmische Reich schufen und bewohnten. Als eigenständiges politisches Gebilde begann es, sich in der Spätantike zu entwickeln. Als die römische Weltordnung im »langen 7. Jahr- hundert« unter der Last der arabischen Eroberungen und einer weiteren Migrationswelle aus der osteuropäischen Steppe zusammenbrach, begann das Gebilde, sich zu wandeln. Die Frage nach dem Vorhandensein römischer Elemente in den Strukturen, die sich in der byzantinischen Welt und anderswo imMittelmeerraum nach den politischen und wirtschaftlichen Katastrophen des 5. bis zum 7. Jahrhundert entwickelten, ist imWesentlichen eine Frage nach der historischen Kontinuität: Gehör- ten die aufeinanderfolgenden Formen des sozialen Lebens derselben Gesellschaft an? Sie betrifft zugleich eine der wichtigsten Grundfragen moderner Historiographie, die nach der Größe der Kluft zwischen der Antike und dem Mittelalter fragt. Historikerinnen und Historiker sprechen von einer Kontinuität, wenn in den aufeinanderfolgen- den Etappen in der Geschichte einer Gesellschaft, die eine bestimmte Region bewohnte, die Umbrü- che fehlen – wenn sowohl vor als auch nach einem als entscheidend befundenen Ereignis sich in den Quellen Belege für dieselben menschlichen Handlungsweisen finden. Eine solche Vorgehensweise möchte ich auch im Folgenden anwenden. Auf der Grundlage der bisherigen Fachliteratur identifiziere ich Schlüsselereignisse, -phänomene und -prozesse, die das Handeln der Bewohnerschaft des Ost- römischen Reichs verändert haben könnten, und das auf jeder Ebene der Sozialstruktur. Dazu gehö- ren Begebenheiten aus »der Welt der Menschen«: politische und sozioökonomische Umbrüche, wie die Katastrophe des 7. Jahrhunderts oder die verschiedenen großen Migrationen (insbesondere der Zuzug der Seldschuken und Turkmenen im 11. Jahrhundert). Durch den umwelthistorischen Ansatz verändert sich die Sichtweise auf große politische und sozioökonomische Umbrüche. Bei ihrer Untersuchung fragt sich die Historikerin oder der Historiker, ob der rasante strukturelle Wandel politischer und sozioökonomischer Verhältnisse gleichzeitig den Charakter einer »ökologischen Revolution« hatte. Dieses Begriffspaar führte, wie bereits erwähnt, Carolyn Merchant, eine der Pionierin der Umweltgeschichte in den USA, in den 1980er Jahren in den wissenschaftlichen Diskurs ein. Anhand der Geschichte Neuenglands des 17. bis 19. Jahrhunderts

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