Leseprobe

q 138 Ein vormoderner Staat als sozioökologisches System keine standardisierten und systematisch erstellten Messungen, sondern nur Rekonstruktionen, die auf Daten aus den Archiven der Natur (Höhlen, Seen, Meere, Moore, lebende und tote Bäume etc.) beruhen. Folglich ist das Wissen über das vergangene Wetter schmerzhaft gering. Historiker*innen befinden sich oft in einer Situation, in der sie etwas über die Temperaturen im Frühjahr wissen, aber nichts über die für sie interessanteren Sommer-Herbst-Niederschläge oder Ähnliches. Um den Ein- fluss des Klimas auf die Geschichte zu untersuchen, müssen wir versuchen, zu beweisen, dass genau die Jahreszeiten und Aspekte des Klimas, über die wir etwas wissen, auf der uns zur Verfügung stehenden Zeitskala (mit der wir ein Jahr, oder zwei bis drei Jahrzehnte operationalisieren können) die komplexen Strukturen vergangener Gesellschaften und Landschaften (die wir ebenfalls nur teil- weise kennen) eindeutig beeinflusst haben. Erinnern wir uns daran, was wir über den Zusammenhang zwischen den Wetterbedingungen und den für die Landschaften und Wirtschaften wesentlichen Phänomenen wissen. Beginnen wir mit Niederschlägen im Winter, deren Schwankungen in der Regel in der mittelfristigen Perspektive bekannt sind (man kann sie mit einer Genauigkeit von einigen Jahrzehnten, abhängig von einer konkreten paläoklimatischen Rekonstruktion bestimmen). Die Niederschläge in der kalten Jahres- hälfte (Oktober/November bis März/April) waren in den meisten mediterranen Gebieten entschei- dend für den Getreideanbau. Weniger Niederschlag in dieser Jahreszeit führte zu deutlich geringeren Ernteerträgen.303 In den sogenannten Randgebieten (engl. marginal lands ), in denen die Regenmenge um das für den Anbau von Feldfrüchten erforderliche Minimum schwankte, hing die Rentabilität von Investitionen in die Landwirtschaft und die Ernährungssicherheit der Bevölkerung direkt von den mittel- und langfristigen Entwicklungen der Niederschläge ab.304 Das bedeutet folglich, dass ein Ver- such, die Herbst-Winter-Regenvariabilität mit sozioökologischen Prozessen in Verbindung zu bringen, es erforderlich macht, Nahrungsmittelkrisen, Ertragsfähigkeit der Getreideproduktion und Expan- sionen der Landwirtschaft auf neue Gebiete mit in den Fokus zu nehmen. Niederschläge in der kalten Jahreshälfte sind für die gesamte Untersuchungszeit relativ gut bekannt. Für die Spätantike sind sie der wichtigste, wenn nicht der einzige (wie es für den östlichen Mittelmeerraum der Fall ist) Aspekt des Klimas, dessen Variationen mit einem zufriedenstellenden Detailgrad untersucht werden können. Das zweite Klimaphänomen, über das wir verhältnismäßig viel wissen, sind die Niederschläge im Frühjahr. Wir verfügen heute über Rekonstruktionen, die bis zum Ende des 11. Jahrhunderts rei- chen, und weil es sich um dendrochronologische Daten handelt, ermöglichen sie eine jährliche Datie- rung. Das bedeutet, dass wir ab der komnenischen Periode in der byzantinischen Geschichte einen Aspekt der Klimavariabilität in sehr kurzen Zeitrahmen beobachten können, was uns theoretisch wiederum ermöglicht, den Zusammenhang von Klimaschwankungen und sozialem Leben zu ver- folgen. Sehr starke Regenfälle im Frühjahr konnten zu einer schlechteren Getreideernte führen, sehr schwache Regenfälle konnten Oliven oder andere Obstkulturen schaden. Zugleich behinderten zu starke Frühjahrsregen sowohl die Kommunikation auf dem Land als auch auf dem Meer – und das zu Beginn der schiffbaren Saison, das heißt zu einem Zeitpunkt, an dem Kommunikation und Handel 303 Öztürk, Kuraklığın Kışlık [wie Anm.216]; Touchan, et al., Dendroclimatology and Wheat [wie Anm. 208]. 304 Izdebski, et al., The Environmental [wie Anm. 120].

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