Leseprobe
Einleitung Das Buch Ein vormoderner Staat als sozioökologisches System bietet eine neue Perspektive auf die Geschichte der byzantinischen Welt, richtet sich aber nicht ausschließlich an Byzantinistinnen und Byzantinisten. Ich habe es für alle Forschenden geschrieben, die sich mit der Vergangenheit von Mensch und Natur beschäftigen. Am Beispiel der Geschichte des Oströmischen Reichs versuche ich, darzulegen, welche Möglich- keiten zur Erforschung der Mensch-Natur-Beziehungen bestehen, wenn man verschiedene Ansätze miteinander kombiniert. Einerseits beziehe ich meine Inspirationen aus der europäischen und US- amerikanischen historiographischen Forschungstradition, in der sich seit dem letzten Jahrhundert Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen sozioökologischen Themen widmeten. Andererseits ver- lasse ich das Feld der Geschichtswissenschaften und greife auf theoretische Ansätze und vor allem auf Quellendaten zurück, die aus naturwissenschaftlichen Disziplinen wie Geologie, Paläoökologie oder Paläoklimatologie stammen. Die vorliegende Arbeit hat deshalb sowohl die Aufgabe, die ihr zugrunde liegenden historiographischen Traditionen und die Methoden der verschiedenen wissen- schaftlichen Disziplinen kritisch darzustellen, als auch neue Erkenntnisse zur Geschichte des Ost römischen Reichs vorzustellen. Ein vormoderner Staat als sozioökologisches System ist somit ein Werk an der Schnittstelle der Geschichts- und Naturwissenschaften. Meine Zielsetzung spiegelt sich hier- bei in der Zweiteilung des Buchs wider: Der erste Teil (Kapitel 1 bis 3) besteht aus einer Einführung in die Umweltgeschichte, die ich als eine interdisziplinäre Forschungsrichtung zwischen den Ge schichtswissenschaften und Naturwissenschaften verstehe; im zweiten Teil (Kapitel 4 bis 7) lege ich an einem konkreten Beispiel des Oströmischen Reichs dar, wie der interdisziplinäre Ansatz ange- wandt werden kann. Seit der Entstehung der Umweltgeschichte als eigene Forschungsdisziplin vor einem halben Jahrhundert verlief ihre Entwicklung recht paradox. Zum einen ist die Umweltgeschichte in den USA sowohl quantitativ als auch intellektuell zu einer selbstständigen Disziplin gereift. Auf den jährlich stattfindenden Kongressen der American Society for Environmental History (ASEH) nehmen mehr als 1000 Wissenschaftler*innen teil und an den meisten US-amerikanischen Universitäten ist die Umweltgeschichte sichtbar vertreten. Die aktive Rolle einer so großen Gruppe von Forschenden führte dazu, dass es heute unmöglich ist, die Geschichte der Vereinigten Staaten zu erzählen, ohne auf die umwelthistorischen Veränderungen einzugehen. Darüber hinaus gibt es in der amerikanischen Umweltgeschichte seit über einem Jahrzehnt eine Debatte über die Grundannahmen dieser For- schungsrichtung. Sie findet ihren Ausdruck in neuen Synthesen, die die bisherigen Grundlagen der Umweltgeschichte dekonstruieren und neue historiographische Ansätze vorschlagen.1 In Europa und in anderen Teilen der Welt hingegen ist das Interesse an der Umweltgeschichte auf den ersten Blick erst in jüngster Zeit entstanden. Universitäten mit Lehrstühlen für Umweltge- schichte sind immer noch selten und die Disziplin hat bei Weitem nicht denselben Stellenwert wie zum Beispiel die Wirtschaftsgeschichte. Es ist jedoch nicht so, dass das Interesse für die Rolle der Natur innerhalb der historischen Prozesse ein neues Phänomen wäre. Ganz imGegenteil: Die Anfänge sind bereits zur Zeit der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert bei der Entstehung der Historischen 1 Das umfassendste Beispiel dieser Bemühungen findet sich in: The Oxford Handbook of Environmental History. Hg. v. Andrew Christian Isenberg. Oxford 2014.
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