Leseprobe

q 10 Ein vormoderner Staat als sozioökologisches System Geographie zu beobachten, und die entscheidenden Impulse, um Forschungsfragen nach den Mensch-Natur-Beziehungen zu stellen, gingen von der französischen Annales -Schule aus, die in vie- lerlei Hinsicht die Gestalt der europäischen Geschichtsforschung neu definierte. Mehr noch, Wissen- schaftler*innen, die in Europa Umweltgeschichte betreiben, machen dies auf eine viel interdiszipli- närere Weise als ihre amerikanischen Kolleg*innen: Sie arbeiten mit Klimawissenschaftler*innen und Ökolog*innen sowie vielen anderen Expert*innen zusammen, haben entweder selbst eine zusätzliche Ausbildung oder kamen von nicht historischen Wissenschaften zur Umweltgeschichte. Meine Studie schöpft aus beiden Traditionen, was sich im zweiten Teil niederschlägt, der eine Umweltgeschichte des Oströmischen Reichs präsentiert, die als ein sozioökologisches System begrif- fen wird. Die Hauptforschungsfrage, die ich in diesem Abschnitt des Buchs stelle, ist in gewisser Weise eine bewusste Provokation, die ohne die beiden Traditionen der Umweltgeschichte nicht mög- lich gewesen wäre. Die Frage ist zum einen von der amerikanischen Umweltgeschichte inspiriert, zum anderen helfen bei ihrer Beantwortung die verschiedenen europäischen Traditionen weiter. Sie lautet: Ermöglicht uns die umwelthistorische Perspektive auf die byzantinische Welt, eine Antwort auf die Frage zu finden, ob die Byzantiner wirklich Römer waren? Weil sie selbst daran keine Zweifel hegten, lautet die Frage vielmehr, ob uns die Umweltgeschichte dabei hilft, zu beurteilen, wie viel »Rom in Rom« steckte? Im letzten Jahrzehnt haben zahlreiche Byzantinisten und Byzantinistinnen zunehmend die Prä- senz (spät-)römischer Traditionen auf der kulturellen und institutionellen Ebene, nicht für Byzanz, wie sie betonen, sondern für die Gesellschaft des Oströmischen Reichs2 festgestellt. Gekennzeichnet sind diese Traditionen durch die Zugehörigkeit zur griechischen Kultur und durch verschiedene Loya- litäten gegenüber dem amtierenden Kaiser in Konstantinopel – dem neuen Rom. Koryphäen der Byzantinistik stellen in vollem Ernst das mittelalterliche Reich in eine ungebrochene Kontinuitätslinie zur römischen Republik und charakterisieren es als »ein Reich, das nicht sterben würde«.3 Natürlich handelt es sich dabei um eine Form der intellektuellen Provokation, die darauf abzielt, die Diskus- sionen innerhalb der Byzantinistik zu beleben und die Aufmerksamkeit von Vertretern und Vertre- terinnen anderer historischer Disziplinen auf das einzigartige Forschungspotenzial zu lenken, das den mittelalterlichen Kontinuitäten des Römischen Reichs innewohnt. Indem das vorliegende Buch untersucht, inwieweit das sich wandelnde Verhältnis zwischen Mensch und Natur in der 1000-jähri- 2 Es gibt auch Wissenschaftler*innen, die aufgrund der kulturellen Kontinuität in der Geschichte der Oströmer den Namen Byzanz bereits für die Zeit seit dem 4. Jahrhundert nach Christus verwenden. 3 Haldon, John: The Empire That Would Not Die. The Paradox of Eastern Roman Survival, 640–740. Cambridge, Mass. 2016, 294. Kaldellis, Anthony: The Byzantine Republic. People and Power in New Rome. Cambridge, Mass. 2015. Natür­ lich wird seit über 200 Jahren auf die institutionelle und kulturelle Kontinuität in der Geschichte des Kaiserreichs hingewiesen, unter anderem in Klassikernwie die von Gibbon und Ostrogorski: Gibbon, Edward: History of The Decline and Fall of the Roman Empire. London 1776; Ostrogorski, Georgije: Geschichte des byzantinischen Staates (Byzanti­ nisches Handbuch, 12. Abt., 1. T., 2. Bd). München 1963 und im letzten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts das bedeutende europäische Projekt »The Transformation of the Roman World«. Es bedeutet jedoch nicht, dass es keine ernstzuneh­ menden Wissenschaftlerinnen oder Wissenschaftler gab, die das Ausmaß sozialer, politischer und kultureller Brüche nicht hervorgehoben hätten, zu erwähnen wären unter anderem: Whittow, Mark: The Making of Orthodox Byzantium, 600–1025 (New studies in medieval history). Berkeley 1996 und eine dreibändige französische Synthese der byzantin­ sichen Geschichte, Le monde byzantin 1. L’Empire romain d’Orient, 330–641. Hg. v. Cécile Morrisson (Nouvelle Clio). Paris 2004; The Cambridge History of the Byzantine Empire c. 500–1492. Hg. v. Jonathan Shepard. Cambridge 2008. Auffällig ist, dass in keiner dieser Synthesen die ökologischen Kontinuitäten erwähnt werden.

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