Leseprobe
Oberbayern im Ostseeraum 273 q hunderts gingen auch die letzten Raumdekorationen verloren, und somit kann das Interieur heutzutage nur noch auf historischen Aufnahmen betrachtet und ana- lysiert werden. 6 Der folgende Auftrag führte die Stuckatore nach Livland, wo sie die Innenräume von Schloss Oberpahlen (Põltsamaa) fertigten. Auftraggeber war Major Johann Woldemar von Lauw. Die Arbeitsdauer von längstens zwei Jahrenwurde in einemstrengenVertrag festgeschrieben. 7 Eindeutig lassen sich lediglich drei Räume der Autoren- schaft Graffs und seiner Gesellen zuordnen. Dabei han- delt es sich umdenHauptsaal, den Treppenraumund ein Eckzimmer. 8 Das Schicksal der Stuckaturen in Oberpah- len ist vergleichbar mit denen imSchloss Mitau. Umbau- ten, Überformungen, Feuer und schließlich die Zerstö- rungen zweierWeltkriege vernichteten die Innendekora- tionen imSchloss. Heute zeugen lediglich Fotos von ihrer Existenz, da der Bau eine Ruine ist (Abb. 4). 9 Mitte des Jahres 1774 war der Trupp wieder nach Mitau zurückgekehrt. Bis zur schrittweisen Entlassung aus den Diensten des Herzogs zwischen Juni und Sep- tember 1775 stuckierte er die Academia Petrina von innen und von außen. Zudemarbeitete er inHerrenhäu- sern in der ländlichen Umgebung. Für Swethof (Svēte) existiert eine Rechnung. 10 Für Würzau (Vircava) und Friedrichslust (Jaunbērze) gibt es jeweils historische Ab- bildungen, auf welchen die Merkmale der Innendekora- tion in beiden Fällen für eine Beteiligung des Trupps Graff sprechen. 11 Auch eine Tätigkeit im Herrenhaus Grünhof (Zaļenieki) ist möglich. Dafür fehlen aber bis heute jegliche Nachweise. Die letzte Station war Warschau. In der Hauptstadt des Unionsstaates Polen-Litauen, der zwischen 1772 und 1795 in drei Schritten unter Russland, Preußen und Österreich aufgeteilt wurde, arbeitete Johann Michael Graff nachweislich seit 1776, wie ein Brief an einen Ka- noniker in Mitau belegt. 12 Dort war er im Königlichen Schloss tätig. 13 Aus seinem Trupp waren beide Gesellen mit nach Warschau gekommen. Für Virgilius Baumann und dessen in Jelgava geborenen Sohn Friedrich sind sogar Arbeiten belegt. 14 Für Andreas Lantz dagegen ist lediglich die Reise nachWarschau belegbar. 15 Es folgten Tätigkeiten unter anderem imKrasiński-Palast, Primas- Palast, Łazienki-Palast oder Tyszkiewicz-Palast sowie Tätigkeiten in kleineren Kapellen und Kirchen in War- schau. Łowicz und Skierniewice zählen dazu. 16 Im Ge- gensatz zu seinen bisherigen Stationen arbeitete Graff in Polen nicht nach eigenen Entwürfen. Demzufolge ist seine Handschrift nur schwer zu identifizieren. Wäh- rend seiner Jahre in Warschau verliert sich die Spur des Johann Michael Graff und seiner Gesellen immer mehr. 1785 wurde er im Zusammenhang mit dem Kauf eines Eckhauses in Landsberg am Lech genannt, 1796 fand er letztmals in einer Quellemit Bezug zuWarschau Erwäh- nung, deren Betreff eine Geldzahlung war. Ein Todes- eintrag konnte bis jetzt nicht gefunden werden. 17 Mit seinen Tätigkeiten in Preußen, Kurland, Livland und Polen folgte Johann Michael Graff einer Tradition, diewesentlich für dieWessobrunner Künstler undHand- werker im 17. und 18. Jahrhundert war. An immer ent- fernteren Orten nutzten Regenten ihre Kunstfertigkeit, um repräsentative Innenräume im Geschmack der Zeit gestalten zu lassen. 18 In der Mitte des 18. Jahrhunderts verteilten sich ihre Arbeiten über die beachtliche Fläche von rund 700 000 Quadratkilometern (Taf. XXXV). Die Eckpunkte dieses Polygons tragen die Namen bekannter Städte wie Mainz, Berlin, St. Petersburg, Warschau und Wien. Der vorliegende Beitrag nimmt sich dieser The- matik imAllgemeinen an: ImVordergrund steht an die- ser Stelle nicht eine detaillierte Betrachtung der Verbrei- tung desWessobrunner Stucks in Europa zwischen 1600 und 1800, sondern vielmehr deren Visualisierung. Zu dem wird zu erörtern sein, inwieweit sich ein Einfluss des Großen Nordischen Krieges nach 1721 auf die Ar- beitsumgebungen der Wessobrunner ergründen lässt. Zur argumentativen Unterstützung wurde ein umfang- reicher Datensatz angelegt, der als Grundlage für eine deskriptiv statistische und eine geografische Auswer- tung der Verbreitung dient. Abb. 4 Schloss Oberpahlen (Põltsamaa), Ruine (Foto: open source/Metsavend, 27. 7. 2010)
Made with FlippingBook
RkJQdWJsaXNoZXIy MTMyNjA1