Leseprobe
Einleitung Bewegung und Mobilität sind in den Künsten seit jeher wichtige Katalysatoren für Innovation und Entwick- lung. Zusammen mit Künstlern wandern auch neue Ideen, Konzepte, Stilformen und Techniken über Gren- zen hinweg und vermischen sich an ihren Ankunfts orten mit dem dort Tradierten. Eine weite Wanderung in ein fremdes Land bedeutete in der FrühenNeuzeit ein hohes Risiko, war doch das Wissen um ferne Gebiete in der Regel eingeschränkt und das Reisen beschwerlich. Dennoch ist für jene Zeit eine erstaunliche Migrations- aktivität in den künstlerischen Berufen zu verzeichnen. In diesem Kontext befassten sich die Autorinnen und Autoren des vorliegenden Bandes anhand unter- schiedlicher Fallbeispielemit demPhänomen der Künst lermigration in der Ostseeregion. Die Ostsee war in der Frühen Neuzeit nicht nur die Barriere, als die sie im späteren Verlauf der Geschichte wahrgenommenwurde, sondern auch eine Kontaktzone; ihre Anrainerländer standen in vielfältigen Beziehungen zueinander – Handel, Diplomatie, aber auch Krieg begünstigten den Austausch untereinander und somit auch dieMigration. In besonderem Maße galt dies auch für die Kunst. Poli- tisch wurde die Region gerade im 16. bis 18. Jahrhundert durch zahlreiche militärische Konflikte geprägt, die historisch unter die Zeit der Nordischen Kriege subsu- miert werden. Das über zwei Jahrhunderte andauernde Ringen um das dominium maris baltici , die Vorherrschaft im Ostseeraum, erwies sich für Nordosteuropa prägend und beeinflusste insgesamt die politische Neuord- nung des frühneuzeitlichen Europa. Klaus Zernack definierte »das Zeitalter der Nordischen Kriege«, wel- ches die Ausweitung des Dreißigjährigen Krieges auf die Region einschließt, als eine eigene Geschichtsepo- che, in der sich »sukzessive, aber keineswegs gradlinig das neue Gesicht Osteuropas« formte. 1 Unter den Nordi- schen Kriegen fasste er dabei die Gesamtheit der mi litärischen Auseinandersetzungen im Ostseeraum in den Jahren 1554 bis 1721 zusammen, zu deren Haupt- akteuren Polen, Schweden, der Moskauer Staat und Dänemark gehörten. Erst Zernacks umfassendes Kon- zept der Nordischen Kriege als regionenkonstituieren- der Geschichtsepoche wies über die bisherige natio- nalhistoriografische Forschung hinaus und lenkte die Aufmerksamkeit auf größere Zusammenhänge, be- tonte das transnationale Ausmaß der vielen miteinan- der verbundenen Konfliktherde undmachte die Folgen des Kampfes um die Vormachtstellung imOstseeraum im gesamteuropäischen Kontext sichtbar. Vor diesemHintergrund ging das Projekt »Bellumet artes« 2 am Leibniz-Institut für Geschichte und Kultur des östlichen Europa (GWZO) in Leipzig der Frage nach den Auswirkungen der komplexen kulturellen, politi- schen und ökonomischen Verflechtungen im Ostsee- raum im Zeitalter der Nordischen Kriege auf die Kunst und Künstler 3 nach und gab auch den Anstoß zu einem Workshop. Dort zeigte sich die große inhaltliche und methodische Nähe zwischen den Forschungsschwer- punkten der beiden Herausgeberinnen. 4 Aus einem leb- haften Austausch formierte sich die Idee, den nun vor- liegenden Band zusammen anzugehen. Kriege und militärische Konfrontationen, die für Mittel- und Nordosteuropa der Frühneuzeit prägend waren, wirkten sich auf die Künste nicht nur zerstörend aus, sondern bedingten und beförderten gleichermaßen auch ihre Entwicklung. Bei den politischen Protagonis- ten steigerten sie das Bedürfnis nach visueller Kommu- nikation und künstlerischer Repräsentation und waren gleichzeitig ein wichtiger Motor für Künstlermigration. Daneben wirkten auch andere einschneidende Ereig- nisse unterschiedlichster Art als Auslöser für Wander- bewegungen. Exemplarisch sind hier Hungersnöte zu nennen, wie sie etwa 1602/03 oder 1695 bis 1697 in Reval auftraten, wiederkehrende Epidemien wie in Wesso brunn oder auch die Pest, die 1663 in Amsterdam und 1710 in Reval wütete. Die Autorinnen und Autoren zeichnen in ihren Bei- trägen ein differenziertes Bild von der Dynamik künst- lerischer Transferprozesse und den tatsächlichen Ar- beitsbedingungen von Künstlern und Kunsthandwer- kern in der Ostseeregion. Dabei liegt der Schwerpunkt nicht nur auf Metropolenwie Danzig, die hierbei beson- dere Anziehungskraft ausübten, und nicht nur auf nie- derländischen Künstlern und Kunsthandwerkern, die die personenstärkste Einwanderungsgruppe rund um die Ostsee darstellten. Vielmehr wird der Blick auf ver- schiedene Gruppen und Individuen sowie die gesamte Ostseeregion gerichtet: auf die Königreiche Polen, Däne- mark und Schweden (mit seinen Ostseeprovinzen), das HerzogtumKurland oder auch Städte wie beispielsweise Stockholm, Riga oder Reval. Folgende Fragen bilden ei nen gemeinsamen Ausgangspunkt aller Untersuchun- gen: Was motivierte die Künstler zur Migration und welche Ziele steuerten sie an? Was machte einen Ort für
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