Leseprobe
33 Doris Titze – Linienräume Meine sehr geehrten Damen und Herren, die Energie der Linie, die den Raum schafft. Es gibt nämlich Linien, die sind bloße Striche, die stehen einfach so im Raum, verloren und ohne Kraft, aber es gibt auch welche, »die einander rufen, um sich in einem Gespinst zu verschränken oder ver- einzelt zu einem Bild zusammenzutreten, dessen freie Flächen nur scheinbar leer sind. Beredte Linien, die empor schnellen, sich neigen, sich brechen, zurücktreten und wiederkommen. [...] Linien, die etwas entdecken, aber nichts lehren, stets lyrisch, nie didaktisch. [...] Mehr Linie als Strich/ Mehr ziehende als gezogene Linie [...]«, schrieb André Masson, einer der großen Künstler des Surrealismus, dessen Zeichnungen und Bilder von der Linie regelrecht beherrscht werden. Nun ist Doris Titze wahrhaftig keine surrealistische Künstlerin, aber die Linie, die freie Linie, die keine Form umreißt, die keine benennbare Gestalt umschreiben oder entwerfen will, ist in ihren Zeichnungen und Pastellen das wichtigste, ja das alleinige Gestaltungsmittel, nur dass in den Pastellen noch die Farbe hinzukommt. Die Beredsamkeit ihrer Linien kommt nicht aus einer erzählten Geschichte, son- dern folgt einem geheimen Rhythmus, der ihnen Länge und Dichte eingibt. Diesen Rhythmus holt sich Doris Titze aus der Musik von Beethoven, Chopin und Arvo Pärt, dem berühmtesten estnischen Komponisten unserer Zeit, der gleichzeitig als einer der wichtigsten lebenden Komponisten überhaupt gilt. In seiner Musik geht es um Reduktion auf das Wesentliche, wobei das Resultat sich nicht durch Einfach- heit, sondern höchste Komplexität auszeichnet, ebenso wie die Zeichnungen von Doris Titze. Hört man die Musik von Pärt, in der sich extrem hohe Spitzen mit dichten melodischen Klängen ablösen, dann glaubt man, die neueren Zeichnungen von Doris Titze fast wie ein Sonogramm lesen zu können. Da man aber die Stücke nicht kennt, die Titze gehört hat, ist das nicht ausschlaggebend, doch man beginnt, die Zeichnungen, die wegen der Symmetrie übrigens mit beiden Händen gleich- zeitig ausgeführt werden, besser zu verstehen. Doris Titze schließt beim Zeichnen die Augen, damit die Empfindungen bzw. die Energie direkt übertragen werden. Aber um hier keinen Mythos entstehen zu lassen: Doris Titze ist keine Blind-Zeich- nerin. Sie hat das Blatt immer im Griff. Am liebsten würde ich sogar sagen, dass sie das Blatt dennoch immer im Blick hat, wenn das nicht so absurd klänge und doch stimmt es, weil sie die Augen immer wieder öffnet. »Ich achte genau darauf, wo ich mich im Blatt befinde«, sagt sie . Es geht ihr also nicht darum, blind zu zeichnen, sondern um die Konzentration, um sich dem Rhythmus ganz zu über- lassen, damit die Energie aus den Händen in die Zeichnung einströmen kann. was für ein Erlebnis, wenn ein Kleinkind seinen ersten Strich auf einem Blatt Papier geschafft hat. Zum ersten Mal hat es bewusst eine Spur hinterlassen. Später im Lauf des Lebens wird noch viel gekritzelt, geschrieben, geschmiert, gezeichnet und wieder verworfen werden, aber dieses erste Mal bleibt einmalig. Und manch ein Mensch macht das Zeichnen zum Beruf wie Doris Titze, die von sich selbst sagt: »Eigentlich bin ich Zeichnerin«, wobei sich das »eigentlich« auf die anderen Me- dien bezieht, die sie hin und wieder nutzt oder genutzt hat, wie die Malerei oder die Skulptur. Nicht vergessen werden soll dabei auch die Kunsttherapie. Doris Titze hat an der Münchner Akademie das Aufbaustudium Bildnerisches Gestalten und Therapie durchlaufen und abgeschlossen und ist seit 1997 Professorin für Kunst- therapie. Seit 2002 leitet sie den Aufbaustudiengang KunstTherapie an der Hoch- schule der Bildenden Künste in Dresden. Und das ist nicht nur ein Brotberuf, son- dern etwas, das ihr auch am Herzen liegt, aber trotzdem viel Zeit kostet, die sie sonst für die eigene Kunst verwenden könnte. Doch der Mensch wächst mit seinen Aufgaben und vieles, was ihm zunächst abwegig erscheint, kommt letztendlich der Kunst zugute. Bei Doris Titze hat sich da viel angestaut, weil ihr Professoren- dasein sehr zeitintensiv und aufreibend ist, aber in der letzen Zeit hat sie sich wieder verstärkt ihrer Kunst zugewandt, und das soll auch so bleiben. »Linienräume« hat sie diese Ausstellung hier genannt, weil das exakt ausdrückt, was im Mittelpunkt ihrer Arbeit steht: einen Raum allein durch Linien schaffen. Das an sich wäre nichts Ungewöhnliches, weil das beispielsweise alle Architekten beim Anfertigen von Plänen tun, aber Doris Titze macht das, ohne die Gesetze der Zentralperspektive anzuwenden. Sie will keine Räume bauen, sondern diese nur auf dem Blatt entstehen lassen. Auch das ist freilich keine neue Erfindung, weil es räum- liche Darstellungen schon vor der Entdeckung der Zentralperspektive gegeben hat, aber im Vergleich zur frühen Kunst hat bei ihr eine deutliche Akzentverschiebung stattgefunden: Sie begnügt sich nicht mit Überlagerungen und Überschneidungen, was ja die einfachste Art von Raumschöpfung in der Kunst ist. Bei ihr ist es vielmehr
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