Leseprobe

34 damit verbundene andere Raumerfahrung auf zwei gänzlich unterschiedlichen Wegen erkunden, um schließlich wieder zu ihrem wichtigsten Medium, der Zeich- nung, zurückzukehren. »Die Zeichnung ist bei mir immer«, sagt sie. Deshalb steht auch heute wieder die Zeichnung und damit die lebendige Linie im Vordergrund ihrer Arbeit. Und diese ist, wenn sie mit Energie aufgeladen ist, immer etwas sehr Persönliches, wie die Stimme oder die Gestik. In der Kunstfor- schung ist viel von dem persönlichen Strich die Rede, der bei Zuschreibungsfragen oft zu einer ersten Vorentscheidung führt. So hat zum Beispiel Ernst Ludwig Kirch- ner einen unglaublich kraftvollen energiegeladenen, geraden und immer kurzen Strich ohne jeden Schnörkel, ganz anders Matisse, der mit einer einzigen Linie Figuren entwerfen konnte, die in jedem Häkchen Poesie und Leben ausstrahlen, während sich in Picassos Zeichnungen Kraft und Poesie verbinden. Das heißt, wer einen dieser Maler gut kennt, der wird ihn auch an einem kleinen Detail seiner Zeichnungen erkennen, vielleicht besser als an einem Detail eines Bildes. Auch den Zeichenstil eines Michelangelo und Raffael wird kein Kenner verwechseln. Zu diesem Phänomen gibt es eine wunderbare Geschichte aus der Antike, die ich Ihnen hier zum Abschluss noch kurz erzählen will. Es ist die Geschichte der »Drei Linien«, die von Plinius d. Ä. überliefert wurde: Eines Tages kam der in der Antike berühmte Maler Apelles nach Rhodos, um seinen Kollegen Protogenes zu besu- chen. Dieser aber war nicht zu Hause. Da malte Apelles einen ganz feinen Strich auf eine der bereitstehenden Leinwände und ging fort. Als Protogenes zurück kam, wusste er sofort, wer ihn besucht hatte und malte mit seinem feinsten Pinsel einen noch dünneren Strich neben den ersten. Kurz darauf kehrte Apelles zurück und malte zwischen die beiden dünnen Striche einen allerfeinsten Strich. Die beiden Konkurrenten beschlossen, das so entstandene Kunstwerk aufzubewahren. Und bald galt es als das bedeutendste Kunstwerk überhaupt. Leider wurde es 250 Jahre später bei einem Brand im Haus von Julius Caesar zerstört. In diesen drei Linien zeigte sich nach Meinung der Zeitgenossen die große Kunstfertigkeit der beiden Meister. So viel kann eine Linie aussagen. Deshalb werden Handzeichnungen so sehr geschätzt. Sie sind das Persönlichste, was ein Künstler hervorbringen kann. Hanne Weskott Dr. Hanne Weskott, Rede zur Eröffnung der Ausstellung »Linienräume« im Rathaus Stephanskirchen am 25. September 2014 (leicht editiert) Aber wenngleich die Linien von Doris Titze keine festen Formen umschreiben, so formen sie sich doch. Es entstehen Kreis- oder Kegelformen, bewegte rundliche Gebilde, die wie Amöben im Blattraum schweben, sich berühren oder abstoßen, doch es entstehen auch gebündelte Lineaturen mit waage- oder senkrechter Aus- richtung. Manche Linienbündel konzentrieren sich zur Mitte hin, als wollten sie den Raum einsaugen, andere wiederum scheinen wie eine große Welle nach außen zu drängen; manche lassen viel Raum, andere besetzen das Blatt bis an den äu- ßersten Rand. Das gilt für die Zeichnungen und bedingt für die Pastelle, die durch die Farbe intensiver als die Zeichnungen nach Verdichtung streben. Doch es gibt hier nicht nur freie Zeichnungen, sondern ebenso figürliche Dar- stellungen, meist aquarellierte Köpfe, die wie Porträts wirken und in diesem sonst nicht figurativen Werk erstaunen. Es hat allerdings schon früher formale Annähe- rungen an die menschliche Figur gegeben. Das entwickelte sich damals in den 1980er-Jahren direkt aus Titzes Art, zu zeichnen. Diese hatte viel mehr als heute etwas Einschließendes, sodass sich die Linien scheinbar nach innen zurückzogen. Diese frühen Zeichnungen haben nicht die Offenheit der geraden Linien von heute. Aber diese Köpfe hier, die um die Jahrtausendwende bis 2005 bzw. 2007 entstan- den sind, haben sich nicht aus diesen Zeichnungen entwickelt, selbst wenn es ei- nige gezeichnete Köpfe gibt. Die aquarellierten Köpfe sind aus der Auseinander- setzung mit der Farbe entstanden. Sie sind gleichzeitig mit den aquarellierten Streifenbildern gemalt worden und hängen deshalb auch auf einem Tableau zu- sammen, wobei der Zusammenhalt allein durch die Farbe geschieht. Damit stellen die Köpfe und die Streifen zunächst nichts anderes dar als zwei unterschiedliche Arten von Anordnung der Farbe auf der Fläche, um Kontrast und Nähe zu zeigen. Hauptfrage für Doris Titze war in diesem Fall: Wie verhält sich Rot zu Rot oder zu Grün? Es ging ihr also um eine rein malerische Frage. Aber ein Kopf mit einem Ge- sicht ist ein Porträt, vor allem, wenn das Gesicht einen individuellen Ausdruck hat, und das ist grundsätzlich etwas anderes als ein Bild mit Farbstreifen. Doris Titze ist sich dessen durchaus bewusst, denn sie hätte ja auch etwas anderes malen können, ein Haus zum Beispiel, was als Motiv wesentlich unbelasteter gewesen wäre. Aber sie malte ein Gesicht, das das Gesicht ihrer Großmutter in jungen Jahren ist, das sie nur von zwei leicht unscharfen Schwarz-Weiß-Fotos her kennt, weil sie, wie sie sagt, »etwas Konkretes brauchte, um sich daran zu reiben«. So ein unscharfes Foto lässt der Fantasie viel Freiraum, aber nicht unbegrenzt. Sie wollte die Farbfrage und die

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