Leseprobe
66 Ein frühes Selbstbildnis von Rubens Anlässlich des 400. Geburtstags von Peter Paul Rubens 1977 legte Michael Jaffé eine unbekannte, in Öl auf Papier ausgeführte Porträtstudie vor, in der er ein »italienisches« Selbstbildnis des Künstlers erkannte (Kat. 1). 2 Das Porträt stammte aus der Sammlung Harvey in Langley Park und war kurz zuvor von seinem neuen Besitzer als Kopie nach Rubens auf dem Kunstmarkt erworben worden. 3 Über seine frühere Herkunft ist nichts Greifbares bekannt. Vielleicht kann es als jenes »Porträt von Rubens in seiner Jugend von ihm selbst gemacht« identifiziert werden, das am 2. Sep- tember 1649 als Nummer 84 im Nachlass des Antwerpener Malers AbrahamMatthys (1581–1649) erwähnt wurde, doch lässt sich das nicht nachweisen. 4 Das neu entdeckte Selbstporträt befand sich eine Zeit lang als Leihgabe im Fitzwilliam Museum in Cambridge, das Jaffé bis 1990 als Direk- tor leitete. Danach geriet es aus dem Blickfeld, bis es fast vier Jahrzehnte später wieder auftauchte. In diesem prägnanten Werk stellte sich Rubens so dar, wie er sich selbst aus nächster Nähe im Spiegel sah. Alle Attribute ließ er beiseite. Das Gesicht fängt das volle Licht ein, sodass die Physiognomie des Malers deutlich zu erkennen ist. Das linke Ohr und der Hals sind in Schatten gehüllt, das Revers seines Umhangs ist gerade noch zu erkennen. Auffallend ist der eindringliche Seitenblick, mit dem Rubens aus der Bildebene herausschaut und Kontakt mit den Betrachten- den sucht. Die gekonnteAusführung der Studie, die variierende und flüssige Pinselführung in der Darstellung der Gesichtszüge, das natürlich gewellte Haar und die Rötung der Haut – all das trägt zu dem Gefühl bei, unmittelbar die Wirklichkeit zu erblicken; als stünde man dem Künstler Auge in Auge gegenüber. Obwohl das Porträt dadurch, dass das Papier etwas Farbe absorbiert hat, einiges von seiner ursprünglichen Brillanz verloren hat, ist es das Dokument einer absolut unge- schönten Wahrnehmung: schnörkellos und frei von Rhetorik. In ihrer nahezu emotionslosen Objektivität lässt sich Rubens’ Porträtstudie Jaffé zufolge gut mit dem eigenwilligen Selbstbild- nis des jungen Jacopo Tintoretto (1518–1594) vergleichen (Abb. 1). 5 Tatsächlich scheint es durch- aus möglich, dass Rubens das frühe Selbstporträt des von ihm bewunderten Tintoretto in Venedig gesehen hat. 6 Beide Bildnisse sind Ausdruck einer selbstbewussten, prunklosen Kunstfertigkeit und zeichnen sich durch direkte Beobachtung und einfache Komposition aus. 7 Aus der Specifi- cation , der 1640 erstellten Dokumentation von Rubens’ Kunstbesitz, der nach seinem Tod zum Verkauf bestimmt war, weiß man zudem, dass der Maler ein Porträt des Venezianers in seiner Sammlung hatte, bei dem es sich allerdings höchstwahrscheinlich nicht um das Porträt Tintoret- tos als junger Mann handelte. 8 Aus stilistischen Gründen setzte Jaffé die Porträtstudie um das Jahr 1607 an, zu etwa jener Zeit, als Rubens in Rom an dem meisterlichenAltarbild für den Chor der Oratorianerkirche Santa Maria in Vallicella – der Chiesa Nuova – arbeitete (1606/07, vgl. Kat. 38). 9 Das von Jaffé vorge- brachte »medizinische«Argument ist hingegen wenig überzeugend: Das Porträt soll Rubens nach überstandener Krankheit zeigen. Er hatte sich im Sommer 1606 von einer schweren Infektion – vielleicht einer Lungenentzündung – dank der guten Pflege seines Freundes, des Arztes Johan- nes Faber, erholt. Rubens soll das Selbstporträt als Zeugnis seiner schweren Krankheit gemalt und später nach Antwerpen mitgenommen haben. 10 Jaffés bedeutende Entdeckung erhöhte die Zahl der von Rubens gemalten Selbstporträts auf fünf. Die hier besprochene Porträtstudie, die aller Wahrscheinlichkeit nach das älteste erhal- tene Selbstbildnis des Künstlers ist, zeigt Rubens als jungen Mann in seinen späten Zwanzigern; das letzte entstand nur wenige Jahre vor seinem Tod 1640. In all diesen Selbstporträts ließ Rubens jeden Hinweis auf seinen Beruf außen vor und präsentierte sich als aristokratischer gentiluomo , ein Image, das er sorgfältig pflegte . 11 Die in Öl auf Papier ausgeführte Studie war jedoch nicht als »Selbstbildnis« im eigentlichen Sinn gedacht. Obwohl sie wie ein vollendetes Selbstporträt erscheint, handelt es sich in Wirklichkeit um eine Kopfstudie, wie Rubens sie oft in Vorbereitung seiner großen Historienbilder anfertigte. Studien dieser Art entstanden während seines Aufenthalts in Italien und in den ersten zehn Jahren nach seiner Rückkehr nach Antwerpen, später jedoch nicht mehr. Sie dienten dazu, ein Gesicht genauer auszuarbeiten, was größere Aufmerksamkeit √ Kat. 1 PETER PAUL RUBENS Selbstbildnis um 1604/05 Öl auf Papier, auf Leinwand aufgelegt, 49,5×39,5 cm Privatsammlung Antwerpen
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