Leseprobe
220 Der vergessene Rubens Man würde erwarten, nach 350 Jahren Kunstgeschichte sei das Wichtigste über Peter Paul Rubens und sein Werk schon gesagt worden. Aber der flämische Meister und sein Atelier waren so pro- duktiv, dass Kunsthistoriker bis heute fleißig amWerkverzeichnis des Künstlers schreiben – dem Corpus Rubenianum Ludwig Burchard . In Bezug auf die Ikonografie, die Provenienzforschung und die Untersuchung der Maltechnik hat es in den letzten Jahrzehnten einen deutlichen Erkennt- niszuwachs gegeben. Dadurch ergibt sich ein zunehmend vollständiges Bild des enormen Œuvres, das Rubens und seine Mitarbeiter hinterlassen haben. In den großen, bedeutenden Museen der Welt sind viele seiner mythologischen und biblischen Bilder, Historiengemälde, Landschaften und Porträts ausgestellt. Diese Meisterwerke werden auch im Internet in hochauflösenden Bildern einem breiteren Publikum zugänglich gemacht. Einige Werke von Rubens sind jedoch bislang der Aufmerksamkeit entgangen, weil sie in Privatsammlungen oder von Institutionen bewahrt werden und so vor den Blicken der Öffentlichkeit verborgen sind. Manchmal tauchen dann auch Gemälde von Rubens auf dem Kunstmarkt auf – scheinbar aus dem Nichts –, die vordem nur in druckgrafischen Reproduktionen oder literarischen Quellen bezeugt waren. Einige kleinere Werke fristen aber aufgrund ihrer unklaren Provenienz, einer unsicheren Zuschreibung oder eines schlechten Erhaltungszustands in Museumsdepots ein Schattendasein. Das ist schade, denn unbe- kannt bedeutet ungeliebt. In diesem Artikel möchte ich deshalb die Leserschaft einladen, einige vergessene Stücke von Rubens wiederzuentdecken. Konkret möchte ich mich auf drei weibliche Kopfstudien beziehungsweise Charakterköpfe konzentrieren, sogenannte Tronies, die sich in deutschen Sammlungen befinden oder befanden. Wie alle Historienmaler der Renaissance und des Barock brauchte Rubens eine Vielzahl von gezeichneten oder gemalten Kopfstudien, die er in Werken mit vielen Figuren einbauen konnte. Diese Studienköpfe können sehr unterschiedliche Gestalt annehmen. Raffael (1483–1520) und Michelangelo (1475–1564) entwarfen idealisierte, fast unrealistisch anmutende Figuren, wäh- rend sich der scharfe Beobachter Albrecht Dürer vor allem lebende Modelle mit edlemAussehen suchte. Leonardo da Vinci (1452–1519) interessierte sich sowohl für Köpfe, die einem klassischen Schönheitsideal entsprachen, als auch für groteske Silhouetten. Tintoretto studierte die Wirkung des Lichts auf Gipsabgüssen nach antiken Originalen, die er aus ungewöhnlichen Blickwinkeln mit Kreide zeichnete. Federico Barocci hingegen soll – seinem Biografen Giovanni Pietro Bellori folgend – auf der Piazza nach Menschen mit markanten Gesichtern gesucht und sie gebeten haben, für ihn zu posieren. 1 Von diesen Köpfen fertigte er dann Studien an, in denen er einerseits die Wirkung des Lichts und andererseits die Farbnuancen studierte. Rubens war ein Meister der aemulatio , des Ideals der nachahmenden Überbietung, und war in der Lage, all diese traditionel- len Atelierpraktiken miteinander zu verbinden. Um die vielen Gemäldeaufträge erfolgreich und termingerecht ausführen zu können, legte sich Rubens einen Vorrat an wiederverwendbaren Tro- nies an, wie es schon der Antwerpener Künstler Frans Floris vorgemacht hatte. 2 Die Modelle dieser Kopfstudien durften brutal, charismatisch oder lieblich aussehen, mussten aber, um in unterschiedlichen Kontexten Verwendung finden zu können, vor allem einen neutralen Gesichts- ausdruck haben. Erst auf den endgültigen Gemälden verliehen Rubens und seine Mitarbeiter den Gesichtern dann durch minimale Anpassungen einen konzentrierten, ängstlichen, überraschten oder glücklichen Ausdruck. Aus Gründen der Effizienz führte Rubens die meist lebensgroßen Studienköpfe im gleichen Maßstab aus, wie die Kompositionen es forderten, in die sie hinein kopiert wurden. Kat. 54 PETER PAUL RUBENS Weiblicher Studienkopf um 1611 Öl auf Papier auf Eichenholz, 55,5×40 cm Staatsgalerie Stuttgart √ Kat. 53 PETER PAUL RUBENS Reuige Magdalena und ihre Schwester Martha um 1620 Öl auf Leinwand, 205× 157 cm Wien, Kunsthistorisches Museum (Detail)
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