Leseprobe

222 Der vergessene Rubens Stuttgart Die erste Kopfstudie, die ich vorstellen möchte, wird in der Staatsgalerie in Stuttgart bewahrt und trägt dort die Inventarnummer 456 (Kat. 54). 3 Rubens malte diese Studie einer himmelwärts blickenden Frau in Öl auf einem braun grundierten Papier, das auf eine feine Leinwand aufgeklebt und später auf eine 55,5×40 cm große Holztafel montiert wurde. Bevor die Studie nach Stuttgart gelangte, befand sie sich in der Sammlung des erfolgreichen, aber geldgierigen Diplomaten Gustav Adolf Reichsgraf von Gotter (1692–1762), der ein Vertrauter von Eugen von Savoyen, Kaiser Karl VI. und König Friedrich II. von Preußen war. 1736 gelangte das Werk in den Besitz von Herzog Karl Alexander von Württemberg (1684–1737), der das Gemälde in seine Kunst- sammlung auf Schloss Ludwigsburg aufnahm. Dort ist das Werk in einem 1767 aufgestellten Inventar unter der Nummer 810 verzeichnet. 1849 gelangte die Studie dann in das neu erbaute Museum der bildenden Künste (die heutige Staatsgalerie Stuttgart) in Stuttgart. Der Rubensexperte Rudolf Oldenbourg bezeichnete das Werk 1916 »als Vorstudie zu einer Magdalena im Stil von Tizians Büßerin des Palazzo Pitti oder der Eremitage«, fand es aber schwierig, die strenge Gestaltung des Gemäldes mit dem Stil zu vereinbaren, den Rubens um 1630 verwendete, als er sich mit der Bildwelt Tizians auseinandersetzte. »Die derben Züge freilich und der sachliche Vortrag unschöner Einzelheiten, wie der Nasenlöcher, der breiten Zähne oder des Doppelkinns, bedeuten ein eigentümliches Durchbrechen des nordischen Empfindens in dieser ganz von italienischen Schönheitsnormen beherrschten Zeit«, schlussfolgerte er. 4 Kunst- historiker, die sich nicht auf die Reise nach Stuttgart machen konnten, beurteilten die Studie allein auf der Grundlage von Schwarz-Weiß-Bildern, was eine angemessene Würdigung oder Vor- schläge zu einer Datierung nicht eben erleichterte. 5 Erst kürzlich hat sich Nils Büttner lobend über die schnell und wirkungsvoll gemalte Studie geäußert, und das – wie ich denke – völlig zu Recht. Die Augen, die Nase und der Mund des Modells sind nicht ganz symmetrisch, und die Anatomie des Gesichts wirkt etwas seltsam, aber die Pinselführung mit ihrem Impasto macht einen bemerkenswert lebendigen Eindruck und verrät die Hand eines Meisters. Ludwig Burchard Abb. 1 PETER PAUL RUBENS Kreuzaufrichtung 1610/11 Öl auf Eichenholz, 460×430 cm Antwerpen, Liebfrauenkathedrale (Detail) Abb. 2 PETER PAUL RUBENS UND WERKSTATT Auferweckung des Lazarus um 1605–1625 Öl auf Leinwand, 177× 160 cm Turin, Musei Reali, Galleria Sabauda (Detail)

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