Leseprobe

223 Nico Van Hout datierte die Tronie in die Jahre zwischen 1615 und 1620, 6 obwohl die robuste, flott gemalte Studie früher entstanden zu sein scheint. Von den lasierend dünn übereinandergelegten Farbschichten oder der optischen Ausnutzung einer darunter liegenden streifig aufgetragenen Imprimatur, die für Rubens’Maltechnik ab 1614 charakteristisch sind, ist hier nichts zu sehen. Auch die Tatsache, dass Rubens die Studie auf Papier gemalt hat, weist auf ein Entstehungsdatum kurz nach der Rückkehr des Künstlers aus Italien hin, wo er sich diese Praxis angeeignet hatte. Die Plastizität der Schulter- und Nackenpartie und die expressive Pinselführung im Bereich des weißen Hemdes zeigen eine deutliche Ähnlichkeit zu der knienden Mutter mit Kind am unteren Rand des linken Flügels der berühmten Kreuzaufrichtung , die 1610/11 entstand und heute in der Antwerpener Kathedrale zu bewundern ist (Abb. 1). 7 Die Darstellung eines Kopfes in starker Untersicht war für Künstler schon immer eine schwierige Aufgabe – und selbst für Rubens nicht einfach. Weibliche Köpfe mit himmelwärts gerichtetem Blick wurden in vielen religiösen Bildern benötigt, wo sie sich verzweifelt dem Himmel zuwenden oder etwa auf die Himmelfahrt Mariens blicken. So war es ausgesprochen nützlich, einen wiederverwendbaren Prototyp zu haben, in dem eine solche Pose vorgebildet war. Es ist deshalb auch nicht verwunderlich, dass der Stuttgarter Frauenkopf in zahlreichen Gemälden auftaucht, die Rubens vor allem in den wirtschaftlich prosperierenden Jahren des Zwölfjährigen Waffenstillstands mit der Republik der Niederlande zwischen 1609 und 1621 schuf. Selbst im weiteren Verlauf der künstlerischen Karriere griff Rubens verschiedentlich auf diesen Kopf zurück. So erkennt man die markante Physiognomie des Modells zum Beispiel in der zu Christus aufblickenden Frau in der Auferweckung des Lazarus (Abb. 2) in Turin, 8 und in einem Gemälde Abb. 3 PETER PAUL RUBENS UND WERKSTATT Himmelfahrt Mariens um 1615 Öl auf Leinwand, 500×340 cm Brüssel, Koninklijke Musea voor Schone Kunsten van België (Detail) Abb. 4 PETER PAUL RUBENS Kreuzabnahme um 1617 Öl auf Leinwand, 425×295 cm Lille, Musée des Beaux-Arts (Detail) Abb. 5 PETER PAUL RUBENS Beweinung Christi um 1616 Öl auf Leinwand, 131 × 130 cm Los Angeles, J. Paul Getty Museum (Detail) Abb. 6 PETER PAUL RUBENS Das große Jüngste Gericht um 1617 Öl auf Leinwand, 608,5×463,5 cm München, Bayerische Staatsgemälde- sammlungen, Alte Pinakothek (Detail)

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