Leseprobe
257 Gero Seelig Der biblische Patriarch Lot wurde als einziger Gerechter samt Frau und zwei Töchtern von Engeln aus seiner sündigen Heimatstadt Sodom hinausgeführt, bevor diese durch Gottes Strafe zerstört wurde (Gen 19). Rubens deutete die Feuersbrunst auf seinem um 1610 entstandenen Gemälde, das sich heute im Staatlichen Museum Schwerin befindet, rechts im Hintergrund an (Kat. 61). Die beiden Töchter – in der Annahme, nach dem unterwegs erfolgten Tod der Mutter die letzten Über- lebenden zu sein – machen daraufhin ihren Vater trunken, um sich von ihm schwängern zu lassen und so den Fortbestand der Menschheit zu sichern. In der Folge gebärt jede einen Sohn, Moab und Ben-Ammi, auf die die biblischen Stämme der Moabiter und Ammoniter zurückgeführt werden. Lot sitzt auf dem Schweriner Gemälde lebensgroß und formatfüllend zwischen seinen beiden Töchtern vor einer Grotte, deren Öffnung durch eine architektonisch gestaltete Konsole links oben markiert wird. Rechts im Vordergrund deutet ein leuchtend weißes Tuch einen Tisch an, auf dem metallenes Geschirr mit Weintrauben und Brot steht. Eine der Töchter gießt aus einer kostbaren goldenen Kanne roten Wein in die von der anderen gehaltene Trinkschale, die sie dem Vater reichen wird. Die zweite Tochter schaut ihn gerade an, während er sie, als Ausdruck seiner bereits fortgeschrittenen Trunkenheit, aus den Augenwinkeln fixiert. Körper und Gesicht sind dem Betrachter zugewandt, während seine Arme seitlich ausgestreckt sind, um Schulter und Oberarm der jungen Frau zu fassen. Das Gemälde ist in einem Stich wiedergegeben, den Willem van Swanenburg (1580–1612) 1612 – seinem Todesjahr – signierte (Kat. 62). Er starb am 31. Mai. 1 Zu diesem Zeitpunkt befand sich das Gemälde also bereits in den nördlichen Niederlanden, wenn man nicht eine Reise Swa- nenburgs annehmen will. 2 Doch stach er bereits im Jahr zuvor ein anderes Gemälde von Rubens, ein Emmausmahl (Abb. 1). Die Verse dieses Stichs scheinen die Sammlung de Man in Delft zu erwähnen. Meist geht man davon aus, dass das Gemälde in dieser Sammlung zu finden war. In Analogie ist anzunehmen, dass auch Lot und seine Töchter am ehesten in einer lokalen Sammlung für den Stecher zugänglich war. Das Schweriner Werk von Peter Paul Rubens zählt zu den frühenAntwerpener Werken kurz nach seiner Rückkehr aus Italien im Jahr 1608. 3 Sollte diese Annahme zutreffen, handelt es sich hierbei außerdem um eines der frühesten Werke des Meisters in den nördlichen Niederlanden. Kat. 61 PETER PAUL RUBENS Lot und seine Töchter um 1610 Öl auf Leinwand, 104× 141 cm Schwerin, Staatliche Schlösser, Gärten und Kunstsammlungen Mecklenburg-Vorpommern
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