Leseprobe
Familie Günther Blaus Familienbild (1977) steht für eine Metapher des Schmerzes. Dargestellt sind der Künstler, seine Ehefrau und seine beiden Töchter in einer ungewöhnlichen kompositionellen Zusammenstellung, in der eine massive Klinkermauer mit zwei runden Durchbrüchen eine räumliche Trennung der Eltern von den Kindern schafft. Zusätzlich betont wird diese Distanz durch die Darstellung der Eltern als »Bild im Bild«, als eine an die Mauer gelehnte Bild tafel, während die beiden Kinder durch zwei Rundfenster vor einem lichten, diffusen Hintergrund jenseits der Mauer zu sehen sind. Günther und Ruthild Blau erscheinen in einem Doppelporträt schwarz-weiß, beinahe grafisch. Das Brustbild ist durch strenge Frontalität und starre Blicke gekennzeichnet. Die Dargestellten stehen eng beieinander, ihre Blicke errei chen die Betrachtenden nicht. Es entsteht der Eindruck von eisiger Kälte, denn sie tragen schwere Winterkleidung. Gleichsam als Schutz vor einem schnei dend kalten Wind, der ihnen ins Gesicht bläst, hat Ruthild Blau ihre Kapuze übergezogen, den Reißverschluss bis nach oben hin geschlossen, ihre rechte in einen Handschuh gehüllte Hand hält sie schützend vor die Brust. Auch der zerzauste Haarschopf von Günther Blau und sein zerfurchtes Gesicht scheinen von der Wucht der einwirkenden Kälte zu zeugen. 66 Im Vergleich mit dieser Verfremdung wirkt die Malweise der beiden Töch ter hinter der Mauer viel realistischer. Durch die runden Fenster sind sie als Tondo dargestellt, die zweijährige Hannah im Dreiviertelprofil in Latz hose und grünem Pullover in einem Kinderstuhl sitzend und die neunjäh rige Katharina im Profil in einem Gitterbett liegend. Die Kinder blicken im Gegensatz zu ihren Eltern nicht nach vorne und auch nicht ins Leere; sie scheinen ganz auf etwas konzentriert zu sein, etwas, das den Beobachten den diesseits der Mauer verborgen bleibt. Während die Eltern vor der Mauer verfremdet und nur als Bild erscheinen, ist die Welt der beiden Kinder auf der anderen Seite voller Körperlichkeit und Farbigkeit, wirkt plastisch und hell erleuchtet. Der Blick der jungen Hannah ist wach, doch ihre schlaffen Händchen und die verkrampfte Hand der liegenden Katha rina deuten die schwere, in früher Kindheit begonnene, chronische neurologische Erkrankung der Kinder an. Wie eine Verbindung zwischen den Welten diesseits und jenseits der Mauer hängt im linken Fenster eine Marionette in ihren Seilen, durch die rechte Öffnung verlaufen zwei Kabel und erreichen einen kastenförmigen medizinischen Apparat. Diese beiden sehr unterschiedlichen Objekte sind als Metaphern der »conditio«, der Lebensbedingungen der beiden Mädchen zu betrachten. Zum einen verweist die Schlaffheit der Marionette auf die zunehmende Bewegungsunfähigkeit der Kinder, zum anderen zeigt der medizinische Apparat, dass die Kinder mit fortschreitender Erkrankung immer mehr auf Hilfe angewiesen sind. Ein rotes Kabel stellt die Verbindung zum Tafelbild der Eltern her. Günther und Ruthild Blau waren lange Zeit mit dem Leiden ihrer Töchter konfrontiert, dem allmäh lichen Nachlassen der körperlichen und geistigen Kräfte, welches schließlich nach Jahren zum frühen Tode der Kinder führte. Im Bewusstsein dieser Tatsache können die Mauer als »Schwelle« und die runden Durchbrüche als »Tunnel zum Jenseits« verstanden werden. Die Perspektive des Todes ist im Kunstwerk bereits vorweggenommen und der elterliche Schmerz im Doppelpor trät eindrucksvoll dargestellt. Dieses selten schonungslose, sehr persönliche Bild tritt als Aus nahme neben die vielen anderen Gemälde seines Werkes, in denen Günther Blau sein Grundthema Vergänglichkeit in alltäglicher Sphä re mitschwingen lässt. SP
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