Leseprobe

99 aus dem Bild heraus auf das Schloss zeigt den Ausblick vom rückseitigen Balkon eines Hauses in der Marburger Schwanallee. Dort wohnte eine langjährige Bekannte meines Mannes, die schneiderte. So waren ihm die Umgebung und die Aussicht ganz vertraut. Fast 60 Jahre später ist die Sicht auf das Schloss nicht mehr ganz so frei, jedenfalls nicht in den Sommermonaten. Das Innere des Zimmers wird von einer schwarzen Schneiderpuppe im linken Teil des Bildes dominiert. Diese Schneiderpuppe hat meinen Mann fasziniert. Gesehen hat er sie in Italien. Sie gehörte Lino, dem Schneider aus Malcesine am Gardasee. In den 50er Jahren hat er Lino, der eigentlich Tomaso Benamati hieß, kennengelernt und bei ihm in Malcesine eine Unterkunft gefunden. Öfter hat er mir von ihm erzählt. Dessen offene Art hat ihn angezogen und beeindruckt. Vor allem mochte er den Witz und die Heiterkeit, die Lino um sich verbreitete. Ob mein Mann alles von dessen Erzählungen verstand, bleibt unklar. Seine Italie­ nischkenntnisse waren nicht brillant, aber die Atmo­ sphäre teilte sich ihm bestimmt mit, da er auch selbst immer Sinn für Humor und einen kleinen Scherz hatte. Einer der Lieblingstage im Jahr war für ihn der 1. April. Kein Jahr verging, ohne dass er nicht versuchte, eine Person in seiner Umgebung »in den April zu schicken«. Wie wichtig Lino für meinen Mann war, zeigt auch der kurze Text – einige mit der Schreibmaschine geschrie­ bene Seiten – mit dem Titel »Lino oder Tomaso«. Darin ist auch die Erklärung des zweiten Vornamens und zugleich Rufnamens beschrieben: » Als wir dann vor seiner Berghütte saßen, klärte Lino oder Tomaso mich über seine beiden Vornamen auf. Der amtliche war und blieb ›Tomaso‹, der zweite, ›Lino‹, war nach dem Tod seiner Schwester, die ›Lina‹ hieß, auf ihn gekommen nach alter Sitte.« Auch die für meinen Mann faszinie­ rende Schneiderpuppe findet Erwäh­ nung: »In der Schneiderstube, die beherrscht wurde von einer feierlich schwarzen, mit Nadeln gespickten Schneiderpuppe, wie Chirico sie gemalt hat, breiteten sich Hosen und Jacken und Westen in Fülle aus.« Weiterhin schreibt mein Mann gegen Ende seines kurzen Textes: »Meine Frau, die viel von ihm gehört hat, freute sich auf Linos Bekanntschaft […] Nun standen wir vor seinem Haus. Neben der Tür war jetzt ein Läd­ chen entstanden. Und an der Scheibe klebte ein Schild, man möge sich wegen der Miete an die Familie in Arco wenden. Der Schreiner in der Nähe, den ich nach Lino fragte, antwortete: Lino? Lino è morto! Anno passato: Colasso, cuore! Aber er sagte es lächelnd.« Mit Bleistift ist dem Ende des Textes » Lino Tomaso, mein Freund « hinzugefügt . In diesem Bild verbinden sich für meinen Mann zwei sehr unterschiedliche Welten: Marburg im Winter mit dem Schlossblick und dem gut beheizten Inneren einer ihm vertrauten Werkstatt auf der einen Seite. Auf der anderen Seite verkörpert die Schneiderpuppe von Lino Tomaso das südliche, heitere Italien: Lino, der nur unter Druck arbeitete, sonst aber dem Genießen des Augenblickes mit seinem Lachen und seinen Scherzen zugeneigt war. Zeichnung Lino aus einem Skizzenbuch, 1953

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