Leseprobe

101 Selbstbildnis mit Kreuzen, 1964 ▶ Seite 55 Im Mai 1944 wurde mein Mann in Russland schwer verwundet. Rund 20 Jahre später setzt noch einmal ein Erinnerungs- und Verarbeitungsprozess der Zeit des Naziregimes und des Krieges ein. Am 14. 8. 1964 beginnt mein Mann das Ölbild Selbstbildnis mit Kreuzen , das den Arbeitstitel »Selbstbildnis auf Hinter­ grund« trägt. In seinem Tagebuch sind folgende Anmerkungen zu finden: Am 17. 8. 1964: »›Selbstbildnis m. Hintergrund‹ weiter. 10 Stun­ den an Kopf, Hemd und Hand…Wahrscheinlich kommt noch ein Pinsel quer durch den Mund.« ln den folgenden Tagen gibt es weitere Eintragungen, die immer wieder Änderungen und neue Bildvorstellungen beschreiben. Anfang September findet sich ein Zusatz, der besagt, dass ein neuer dunkler Himmel mit gestreiften Scheinwerfern hinzugekommen ist und dass in die »Kreuzung noch ein Engel« kommen soll. In einem späteren Eintrag beschreibt er die Figur als heiligen Franziskus. Am 7. 9. 1964 werden das Einhorn und der Tod hinter seiner Schulter erwähnt. Die Seeschlange kommt hinzu, wird wieder weggenom­ men und später doch wieder hinzugefügt. Anfang Oktober beschäftigt er sich mit Einzelheiten des Bildes, wie er am 3. und 6. 10. 1964 notiert. ln den Monaten August bis Oktober 1964 arbeitet mein Mann zeitgleich auch an den beiden Totenkopf­ bildern und ebenfalls an weiteren Bildern. Die Tagebucheintra­ gungen zu dem Selbstbildnis verlieren sich und werden erst 1966 wieder aufgenommen: Am 23. 8. 1966 notiert er: »Selbst­ bildnis mit Kreuzen (Sommer 1964) weiter«, am darauffolgen­ den Tag: »den Kopf in Pünktchen aufgelöst« Die Tochter des Vermieters bemerkt dazu: »Das sind die Löcher in der Haut.« und dem Fotoapparat […] Der Sani [Sanitä­ ter, Anm. RB] nimmt mir auch die Feldfla­ sche weg trotz meines großen Durstes. ›Die brauchst Du nicht mehr!‹ Ich höre noch den alle Hoffnung aufgebenden Wiener Tonfall. Dann nur in eine Decke gehüllt und geschichtet wie die Heringe, aber von neidi­ schen Blicken begleitet, in die gute Tante Ju [Spitzname des Flugzeuges Junkers Ju 52, Anm. RB]. Während des Fluges bewußtlos. Aufwachen in einem schrecklich engen Sanka [Krankentransportwagen, Anm. RB], der mich in die Waschküche des Feldlaza­ retts von Galatz (Donaumündung) bringt […] Blutgeruch, Dunst, Wasserdampf, schrille Schreie und Wimmern – ein Höllen­ kreis. Liegen mit 80 Mann im Theatersaal einer Schule. Bein stirbt langsam ab, Gan­ gräne. Wird am 15. 7. amputiert. Während der Nachoperation am 21. wieder ein Traum: in weißem Linnen kommt ein freund­ licher Tod langsam näher, hebt den Arm, die Hand, schließlich den Finger, berührt mich fast – zieht sich dann genau so langsam wieder zurück. […] Erst am Bett merkt der Krankenträger, daß meine Rückenwunden noch nicht verbunden sind.« Nach einer langen Fahrt in einem Behelfslazarettzug (»in Ploesti [Ploiești] Bomben, der Zug wackelt, viele Tote«) durch Rumänien, Ungarn, Wien nach Krakau: »Von dort über Posen, wo unser Zug mit einem Güterzug zusammenstieß und bis auf einen Wagen vor unserem zertrümmert wurde, nach Eberswalde bei Berlin.« Das Traumerlebnis von dem sich nähern­ den Tod hat mein Mann mir gegenüber öfter erwähnt. Es muss ihn sehr bewegt haben. Er selbst kehrte damals ins Leben zurück. Die Malerei, dies zeigen der fast trotzige Ausdruck seines Gesichts und der Pinsel im Mund, ist Stütze und Hilfe. Der Tod hingegen ist mit einem zerbrochenen Pinsel dargestellt. Eine große Kraft wohnte meinem Mann inne, die Widrigkeiten des Lebens auszuhalten und mit ihnen zu leben. Die Beinamputation habe ihm das Leben gerettet, er habe den Krieg überlebt und könne malen, bemerkte er oft voller Dank­ barkeit. Mit den Leichen an dem Galgen, den verzwei­ felt winkenden Menschen am Strand in ihrer Hoffnung auf Rettung und vor allem in dem Meer von roten Kreuzen hinter der zurückge­ schlagenen Leinwand zeigt das Bild das uner­ messliche Leid des Krieges, es weist aber auch auf das persönliche Erleben meines Mannes in dieser Zeit hin. Um den persönlichen Hin­ tergrund dieses Ölbildes ein wenig klarer und anschaulicher zu machen, möchte ich eine kurze Passage aus den auch gleichzeitig in den 60er Jahren noch einmal zusammengestellten Tagebuchnotizen aus der Kriegszeit in Russ­ land zitieren: »lm Hauptverbandsplatz (Verliese, überfüllt, ein Wimmern und Stöhnen) stiehlt man mir die Packtasche mit den Zeichnungen

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