Leseprobe
37 Ausgehend von dem Befund, dass sich das Bauhaus in einer Zeit der poli tischen Zuspitzungen behauptete und eine Schule der Streitkultur ent- faltete, beschreibt Dr. Skadi Jennicke, Kulturbürgermeisterin der Stadt Leipzig, die gegenwärtigen Dilemmata, mit denen sich die Kulturpolitik in Leipzig konfrontiert sieht. Demokratiefeindlichkeit oder Rassismus – es gibt gegenwärtig reichlich Anlass, leidenschaftlich Position zu bezie- hen. Welche Problematik sich hierbei ergibt, diskutiert Jennicke an Bei- spielen aus der Leipziger Kulturpolitik. Diese entstehen für sie beispiels- weise aus dem Neutralitätsgebot von Amtsträgern und staatlichen Insti- tutionen einerseits und der Erwartung der Öffentlichkeit zur kritischen Stellungnahme und Grenzziehung andererseits. Meine sehr verehrten Damen und Herren, vielen Dank für die Einladung zur heutigen Tagung »Freiheit Kunst Gemein- schaft«, die nach den politischen Utopien und den sozialen Reformen im Umfeld des Bauhauses und nach deren Relevanz für die Gegenwart fragt. Ich finde es sehr überzeugend, im Reigen der Veranstaltungen rund um »100 Jahre Bauhaus« jenseits der gestalterischen Aspekte auch den Anspruch des Bauhauses zu thematisieren, verändernd in die Gesellschaft einzugreifen. Deshalb bin ich der Einladung gern gefolgt, aus Sicht der Leipziger Kulturbürgermeisterin zum »Bauhaus heute« zu sprechen. Nun können Sie sich denken, dass ich keine ausgewiesene Bauhauskenne- rin bin, zumal wir in Leipzig – und das kann ich gern zugeben – nicht so umfangreich wie die angrenzenden Bundesländer mit dem Bauhaus »ge segnet« sind, um nicht zu sagen »gar nicht«. Und das nur am Rande: Wir – oder besser der Freistaat Sachsen – fassen das Bauen der Moderne im weitesten Sinne deshalb unter die Überschrift »Industriekultur« und begehen erst im kommenden Jahr ein entsprechendes Themenjahr. Dazu möchte ich Sie natürlich auch ganz herzlich einladen! Ich möchte den heutigen Vortrag weniger als elaborierte Position zur Frage des »Bauhauses heute« gestalten. Vielmehr sehe ich die Tagung als will- kommenen Anlass, um Ihnen beispielhaft einige Dilemmata vorzustellen, die mich als Kulturbürgermeisterin, als Kommunalpolitikerin, in dieser Stadt bewegen. Die Dilemmata, die ich Ihnen aufzeige, beziehen sich auf die (Leipziger) Streitkultur, auf leidenschaftliche Forderungen, in Zeiten der politischen Zuspitzungen Positionen zu beziehen, und rechtliche Aspekte, die nicht aus dem Blick geraten dürfen. Dass das Bauhaus eine Schule der Streitkultur war, ist auch Nicht-Bauhaus- ExpertInnen bekannt. In der Gründungszeit des Bauhauses und in den folgenden 1920er Jahren hieß es, die Welt sei aus den Fugen. Es herrsch te, so schrieb es Oskar Schlemmer 1923, ein »Kampf der Geister wie viel- leicht nirgends sonst, eine dauernde Unruhe, die den Einzelnen fast täg- lich zwingt, zu tiefgreifenden Problemen grundsätzlich Stellung zu neh men. Je nach Temperament des Einzelnen leidet er unter dieser Vielfältig- keit, oder sie ist ihm höchster Genuss, zersplittert ihn oder festigt ihn in seinen Anschauungen.« Schlemmer selbst schien hin- und hergerissen: »Ich finde mich wieder einmal glücklich-unglücklich in der Mitte.« 1
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