Leseprobe

81 In der DDR waren etwa 20 ehemalige BauhäuslerInnen in der Lehre, in der Bundesrepublik etwa 40, also arbeiteten im sozialistischen Staat eigent- lich mehr Bauhaus-Erben als imWesten – bezogen auf die Bevölkerungs- zahl. Offene Prinzipien, wie zum Beispiel WBS 70 (Wohnungsbausystem 1970), MDW (Möbelprogramm Deutsche Werkstätten), die Motorräder von Sim­ son und MZ (Motorradwerk Zschopau), also die Veränderbarkeit, Flexibi- lität und die Reparaturfähigkeit, wurden von Anfang an mitgeplant. Indi- vidualität ist also nicht neben oder trotz der Serie, sondern durch die industrielle Serie gedacht und gewünscht. Die in der DDR am meisten gebauten Neubauwohnungen wurden ab 1973 aus demWBS 70 realisiert. Dabei wurden regionale Prägungen und städtische Standorte in der Gestaltung berücksichtigt. Regionale Materialien wurden bei Balkonbrüs- tungen oder Fassaden- und Giebelgestaltungen zur Differenzierung des Erscheinungsbilds verwendet. Bei den ab den 1980er Jahren einsetzen- den Innenstadtsanierungen ermöglichten neu entwickelte, kleinteiligere Sortimente ein lebendiges Erscheinungsbild. Dieses System aus sehr vielen einzelnen Bauteilen wurde kontinuierlich weiterentwickelt. Nur experimentell erprobtes innenwandfreies Wohnen mit änderbaren Grund- rissen durch die Nutzer blieb aus verschiedenen Gründen Wunschden- ken. Das ab 1967 von den Deutschen Werkstätten Hellerau produzierte VollmontagesystemMDW60 (Entwurf Rudolf Horn, Eberhard Wüstner, HIF Halle – Burg Giebichenstein) jedoch ermöglichte es, einen Möbeltyp in vielen Varianten selbst nach eigenen Vorstellungen zu planen und auf- zubauen. Die bekannten und weltweit exportierten Motorräder von Simson und MZ sind noch heute beliebt wegen ihrer einfachen Konstruk- tion und Reparaturfähigkeit. Karl Clauss Dietel, Lutz Rudolph und andere Gestalter konnten die konstruktive Haltung der Hersteller, ihre Fahrzeuge bei feststehendem Grundprinzip aus sich selbst heraus stetig weiter­ zuentwickeln, im Sinne einer nachaltigen Nutzung zum beiderseitigen Gewinn beeinflussen. Wie heute war ab den 1960er Jahren scheinbar alles da zum Leben, nur irgendetwas für den normalen Menschen mit seinen alten Gewohnheiten, der jetzt neu und individuell sein sollte, hat gefehlt. Aber die Grundfunk- tionen, der Bau von Verkehrswegen, die Nahversorgung, ausreichend viele und gut erreichbare Schulen, die gesamte Infrastruktur der Dienst- leistungen, außerdem Kunst im öffentlichen Raum und Grünanlagen, das finde ich auch heute nicht selbstverständlich, obwohl es das längst sein sollte. Dieses Funktionieren aufrechtzuerhalten, ist heute schon Auf- gabe; dann kommt jedoch dazu das jeweils weitere Anpassen an aktuelle Erfordernisse, was dann aber behutsam und mit Respekt vor der Ver- gangenheit und ihren Biografien passieren sollte. Ein neu gebauter, zen- tral geplanter Ort, der nach 30 Jahren schon wieder alterte, begegnete mir in der Leipziger Altstadt. Bevor ich Fotografie an der Leipziger Schule studieren konnte, schrieb ich mich an der Universität ein und lernte den Campus in der Innenstadt als Student kennen. Die von 1968 bis 1978 neu gebaute Anlage gehörte für mich zum Stadtbild, doch Veränderung kündigte sich durch Neubaupläne und Abriss

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