Leseprobe
111 Zwischen uns, die wir heute ein bestimmtes »Bauhaus-Erbe« antreten oder pflegen wollen, und dem historischen Bauhaus in Weimar, Dessau oder im Exil liegt auch die Rezeption bestimmter Bauhaus-Impulse im seiner- zeit existierenden und auch so genannten »sozialistischen Deutschland«, also in der DDR. Diese Einsicht macht es sinnvoll, einen differenzierten Beitrag zum Umgang mit den Traditionen und ästhetischen Impulsen des »klassischen« Bauhauses in der »Klassikerstadt Weimar«, dem einstigen Geburtsort der berühmten Kunstschule, in diesen Band zu integrieren. Der Text analysiert die Rezeption des Bauhauses in der DDR anhand von Fallbeispielen aus den 1960er und 1970er Jahren. Gemeinsam ist diesen Beispielen, dass sie auf das Engste mit der städtischen Kulturtopografie Weimars verbunden sind und Fragen zur Integrierbarkeit des Bauhauses in die sozialistische Erbepflege aufwerfen. 2 Der Beitrag erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit, soll aber dazu anregen, die Erforschung des »Kosmos Weimar« im epochengeschichtlichen Kontext des 20. Jahr- hunderts zu vertiefen und daraus Erkenntnisse für das diskursive Feld »Geschichte als Gegenwart« im frühen 21. Jahrhundert abzuleiten. 3 Die im Folgenden entwickelten Überlegungen vergegenwärtigen zum einen, wie dynamisch die »Idee Bauhaus« während der 1960er und 1970er Jahre mit immer neuen und teils konträren Bedeutungen aufgeladen wurde; zum anderen führen sie vor Augen, wie sich die verschiedenen kommu- nalen und überregionalen Akteure in der DDR bemühten, ihre jeweiligen Deutungshoheiten hinsichtlich des Bauhaus-Erbes in die physische und mentale Topografie Weimars einzutragen. In den Auseinandersetzungen um das Bauhaus, die seit den 1960er Jahren vor allem von den Staatli- chen Kunstsammlungen Weimar (SKW) und der Hochschule für Archi- tektur und Bauwesen Weimar (HAB) vorangetrieben wurden, zeigt sich das für die DDR typische Spannungsfeld von wechselhafter Moderne- kritik und Moderneaneignung. Den Zeitrahmen der Untersuchung bilden die Amtszeiten der beiden ersten SKW-Nachkriegsdirektoren Walther Scheidig (Direktor 1940–1967) und Gerhard Pommeranz-Liedtke (Direktor 1967–1974) sowie die Bemühun- gen des Architekturhistorikers Karl-Heinz Hüter (* 1929) um die »nach- klassischen Traditionen Weimars«. 4 Hüter, der ab 1952 zunächst an der HAB und ab 1964 an der Deutschen Bauakademie in Berlin tätig war, beschäftigte sich sehr intensiv mit Henry van de Velde und dem Weima- rer Bauhaus, woraus sich interessante Kooperationen zwischen der HAB und den SKW ergaben. Doch nicht nur die gemeinsamen Forschungs interessen schufen aufschlussreiche Verbindungen, sondern auch der Umstand, dass die beiden Weimarer Institutionen kulturhistorische Per- spektiven entwickelten, die dem offiziellen Bauhaus-Bild in der DDR bis in die 1970er Jahre diametral entgegenstanden. Diese Diskrepanz gibt sich insbesondere im Rahmen eines Vergleichs mit den offiziellen Feierlich- keiten zumWeimarer Stadtjubiläum von 1975 zu erkennen, die eine angeb- lich bruchlose Harmonie zwischen Klassik und Sozialismus suggerieren sollten. 5 – Keine Berücksichtigung finden in diesem Beitrag die Aktivi- täten der Nationalen Forschungs- und Gedenkstätten der klassischen deutschen Literatur (NFG), die seit 1953 als strukturell und personell
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