Leseprobe
21 Als sich 2019 zahlreiche Museen, Galerien, Bibliotheken, Theater und Kunst- häuser in Deutschland in Hunderten von Veranstaltungen der Geschichte und dem »Erbe« des längst mythisch überhöhten Bauhauses aus Weimar, Dessau und Berlin mal bewundernd, mal kritisch annäherten, wurde man der Flut der Erinnerungen kaum Herr. Dutzende neue Publikationen, zahl- reiche Beiträge in Rundfunk, Film und Fernsehen informierten das Publikum über nahezu sämtliche Facetten der Bauhaus-Geschichte(n). Dabei domi- nierte ein ästhetik-, kunst-, medien- und architekturgeschichtlicher Blick auf die berühmte Kunstschule und deren Protagonisten. Dass das frühe Bauhaus ein Nachkriegskind war und erst nach der Novemberrevolution 1918 Wirklichkeit werden konnte, dass es selbst politisch höchst unter- schiedlich aufgeladen war und von seinen Gegnern zumeist mit politischen Argumenten bekämpft wurde, geriet im Jubiläumsjahr seltener in den Blick. Die »Marke« Bauhaus, das Label für alles »Moderne«, was »quadratisch, praktisch, gut« erschien, verharmlost das Ideal einer – vom Anspruch her – weltumstürzenden Kunstpraxis zu einer kleinen Lust auf das »Andere«. Damit verblasst eine basale Intention der historischen Kunstschule und ihrer Nachfolge-Institutionen: Galt es doch, die Freiheit und die Indivi- dualität von KünstlerInnen und KunstschülerInnen radikal zu entfalten, um am Ende zu »neuer Gemeinschaft« zu finden. Diesen radikal sozialutopischen Impetus des Bauhauses in den Blick zu nehmen und mit gegenwärtigen Fragen zu konfrontieren, war das Ziel der Abschlussveranstaltung des Freistaates Sachsen zum Bauhausjahr, die im November 2019 im Deutschen Buch- und Schriftmuseum der Deut- schen Nationalbibliothek stattfand und sich als Antidot gegen die über- wiegend formalästhetische Rezeption des Bauhauses im 100. Jahr seiner Wiederkehr wandte. Im Dialog der Disziplinen und Generationen sollte deutlich werden, ob »das Bauhaus« und einzelne seiner Ideen nur zu unserem kulturellen »Erbe« gehören oder auch Teil moderner, individu- eller wie sozialer »Identität« sind (oder sein könnten). Während die aufmerksamen Zeitgenossen der drei Bauhäuser sich selbst- verständlich bewusst waren, dass die »neue Kunst« am Bauhaus eigent- lich für »neue Menschen« in einer anderen Gesellschaft bestimmt war – dass sich also die Kunst der Avantgarde(n) als Vorhut eines radikalen politisch-sozialenWandels verstand (was konservative oder gar völkisch- rechtsradikale Bauhaus-GegnerInnen sofort begriffen), sorgte die oft affirmative Musealisierung und Rezeption der Bauhaus-Ideen über Jahr- zehnte dafür, dass diese politische Dimension, die Vision vom Neuen Menschen, oftmals verblasste. Dieser Traum war freilich älter als das Bauhaus. Ihm hingen seit Ende des 19. Jahrhunderts all diejenigen an, die sich der »Ambivalenz der Moderne« (Zygmunt Baumann) und deren Schattenseiten zunehmend bewusst geworden waren. Wer damals »Frei- heit« rief, fragte auch nach deren Grenzen. Wer radikal »neu« sein wollte (oder war), stand dennoch als »Erbe« in Traditionen. Wer die »neue Welt« ästhetisch entwarf oder politisch imaginierte, blieb Kind seiner Zeit. Das in den Manifesten des Bauhauses omnipräsente Wort von der »Versöh- nung« meinte nach 1918 nicht nur die Verschwisterung von Handwerk, Kunst und industrieller Produktion, sondern war Ausdruck der Sehnsucht
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