Leseprobe

22 nach neuer Menschengemeinschaft in Zeiten eines radikalen und daher auch beängstigenden politischen, ökonomischen und sozialen Wandels. Dem war ein Krieg vorausgegangen, der das »alte Europa« und dessen Gewissheiten hatte untergehen lassen. Unsere Zeit ist nun einen Welt- krieg und eine industrielle Revolution weiter – ob dadurch klüger oder noch mehr ernüchtert, sei dahingestellt. Die alte Frage, ob alles, was fortschreitet in der Moderne, auch im ethisch-moralischen Sinne Fort- schritt ist, stellt sich im Kontext von Digitalisierung, Globalisierung, radi- kaler ökonomischer und sozialer Ungleichheit, Klimawandel und »öko- logischer Katastrophe«, schließlich auch weltweiter Migration und ent- grenztem Konsumismus weiterhin – und auf andere Art auch neu. Wie also verstehen wir heute die Botschaften, Experimente, Ideale und Hoff- nungen der historischen Bauhäusler-Generationen? Wo bleibt das »Erbe« der avantgardistischen Kunstschule in unserer eigenen ästhetischen Praxis? Und wo stehen zeitgenössische Kunst- und Architekturkonzepte wirklich in den Traditionen der drei Bauhäuser (Weimar, Dessau, Berlin) oder der Ulmer Hochschule für Gestaltung? Welche alten Träume von »Gemeinschaft und Gesellschaft« gehen uns heute noch etwas an? Welche politischen Utopien der Zwischenkriegszeit sind verblasst – oder regen uns zum Weiterdenken an? Und haben wir den Mut, uns nicht nur des eigenen künstlerischen Ausdrucksvermögens und Verstandes, son- dern auch der individuellen politischen Überzeugung in der Öffentlichkeit zu bedienen? Kann uns das Wissen um »das Bauhaus«, dessen Kunst und dessen weltweite Rezeption für das Verständnis unserer eigenen Gegen- wart sensibilisieren? Da ein »Erbe« nur durch die stetige Aneignung kul- tureller Überlieferungen im Zugriff nachwachsender Generationen (in unterschiedlichen sozialen Milieus) entsteht, zudem selektiv ist und emotional höchst different besetzt wird, steht der Begriff »Erbe« selbst zur Debatte. Gleiches gilt für den der »Identität«, den die einen als »Plas- tikwort« bezeichnen, andere nicht missen möchten und wieder andere konzeptionell überfrachten. Angesichts dessen, was aktuell in unseren mitteleuropäischen Gesell­ schaften sozial, ökonomisch und politisch geschieht – auch im Freistaat Sachsen –, wollten wir uns der Geschichte und Überlieferung des Bau- hauses aus einem ganz gegenwärtigen Interesse heraus vergewissern, um wünschenswerte Bilder und Visionen unserer Zukunft entwerfen zu können. In diesem Sinne war die dieser Publikation zugrunde liegende Tagung expli- zit politisch und bezog streitbare, allerdings auch bestreitbare Position, in einem Gemeinwesen, dessen politische und ästhetische Debatten oftmals durch Lagerbildung, Feindschaftsdiskurse, Abwertung und Aus- grenzung sowie allseits mangelnde Gelassenheit und Respekt gekenn- zeichnet sind. Anders aber als das historische Bauhaus können wir diese Debatten in einer friedlichen, demokratischen und stabilen Gesellschaft führen. Das verpflichtet uns zugleich zur produktiven Unruhe, zum kritischen Blick auf uns und unsere Zustände, nicht aber zur affirmativen Einstimmung in die »normative Kraft des Faktischen« (Adorno) und den Status quo. – Eine kreative, zeitbewusste, provoka-

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