Leseprobe

14 vativ-liberale Mehrheit im Dresdner Landtag 1896 ein neues Wahlgesetz, das den Übergang vom bisher gel- tenden Zensuswahlrecht zum Dreiklassenwahlrecht verfügte – weniger strikt zwar als beim preußischen Vorbild, doch derart effektiv, dass die Vertreter der SPD bei den Wahlen von 1901 vollständig aus dem Landtag ausschieden. Hingegen gewann die Partei zwei Jahre später, bei den nach allgemeinem und gleichem Wahl- recht durchgeführten Reichstagswahlen von 1903, 22 der 23 sächsischen Wahlkreise – nur der Wahlkreis Bautzen-Kamenz-Bischofswerda fiel an einen Vertreter der antisemitischen Deutschen Reformpartei. Fast ein Fünftel aller sozialdemokratischen Reichstagsabgeord- neten kam damit aus Sachsen. Im Land selbst jedoch blieb die zahlenmäßig so stark vertretene Industriear- beiterschaft ihrer politischen Repräsentation im Land- tag beraubt. Diese auch von vielen bürgerlichen Kräften – und nicht zuletzt vom neuen, seit 1904 (und bis 1918) amtie- renden König Friedrich August III. (1865–1932) (Abb.2) – als unhaltbar empfundene Situation führte 1909 zu einer neuerlichen Wahlrechtsänderung. Sie ersetzte das Dreiklassenwahlrecht durch das Pluralwahlrecht, das jedem sächsischen Wähler eine Grundstimme und bis zu drei Zusatzstimmen verlieh. Solche Zusatzstim- men gab es für Absolventen einer fortgeschritteneren Schulbildung, für Bürger mit einem höheren Steuerauf- kommen sowie für die über 50-Jährigen. Tatsächlich brachten die ersten und zugleich letztenWahlen,die 1909 in Sachsen unter den Bedingungen des neuen Plural- wahlrechts stattfanden, einen deutlichen Zuwachs für die Sozialdemokraten, deren Mandatszahl in gleichem Maß in die Höhe schnellte (1907: ein Mandat; 1909: 25 Mandate), wie diejenige der Konservativen sank (1907: 47 Mandate; 1909: 29 Mandate), während die National- liberalen ihre Position nahezu unverändert behaupten konnten (1907: 31 Mandate; 1909: 29 Mandate). Land der Industrie Das Land der Wettiner, von den deutschen Bundesstaa- ten hinter den Königreichen Preußen,Bayern,Württem- berg und dem Großherzogtum Baden flächenmäßig an fünfter Stelle rangierend, vermochte im Kaiserreich, seine führende Rolle als die am stärksten industriali- sierte Region Deutschlands weiter auszubauen. Die Bevölkerungsballung war, nach Belgien, die höchste in ganz Europa, zwischen 1871 und 1914 wuchs die Ein- wohnerzahl noch einmal um fast das Doppelte (1871: 2,6 Millionen; 1910: 4,8 Millionen). Sachsen besaß das dichteste Städte-, Eisenbahn- und Straßennetz im Reich. Mit seinen florierenden Wirtschafts- und Han- delszentren bot es, trotz politischer Modernisierungs- rückstände,das Musterbild eines aufstrebenden Indus- triestaats.Nur noch knapp 13 Prozent aller Berufstätigen waren zu Beginn des neuen Jahrhunderts in der Land- wirtschaft beschäftigt, wobei mittlere und kleinere Agrarbetriebe mit zumeist allerdings überdurchschnitt- lich hohen Ernteerträgen durch Nutzung maschineller Innovationen vorherrschten. Ähnliche Größenverhält- nisse prägten die meisten gewerblichen Unternehmen im sächsischen Raum.Zu nachhaltigen Konzentrations- prozessen in der Wirtschaft oder gar zur Herausbildung von Konzernen und Konglomeraten ist es hier während der Vorkriegsjahrzehnte nicht gekommen, es blieb bei mehrheitlich kleinen und mittelständischen Einrich­ tungen mit weniger als 50 Beschäftigten. Bis zum Kriegsausbruch 1914 dominierten in Sachsen weiterhin die traditionell starken Schlüsselbranchen der Textilherstellung und des Werkzeugmaschinenbaus,mit der Stadt Chemnitz und ihrem Umland als zentralen Pro- duktionszentren. Hinzu kamen gleichfalls bereits etab- lierte, nunmehr jedoch in Umfang und Ausdehnung er­ heblich an Gewicht gewinnende Spezialindustrien – so die Spielwarenherstellung in den Städten und kleineren Ortschaften des Erzgebirges, der Musikinstrumenten- bau im Vogtland, die Zigarettenproduktion in Dresden, die Herstellung feiner Tuche und Spitzen in Plauen oder, seit Jahrhundertbeginn,der verstärkt betriebene Abbau von Braunkohle in Borna bei Leipzig.Ab Mitte der 1890er Jahre setzte dann, ausgehend von den jungen Leitsek- toren der chemischen Industrie und der Elektrotechnik, eine bis unmittelbar vor Kriegsausbruch anhaltende Kon- junkturphase ein, wobei der damit erneut einherge- hende Industrialisierungsschub vor allem der Fertigung optischer und feinmechanischer Geräte sowie der Motorrad- und Fahrzeugherstellung zu verdanken war. 1 Kronprinz und späterer König Albert von Sachsen, Kronprinz Friedrich von Preußen, der spätere Kaiser Friedrich III. sowie General von Falkenstein und General- stabschef Helmuth von Moltke d.Ä. – die militäri- schen Führer im Krieg gegen Frankreich 1870/71

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