Leseprobe

1155 Großstadtleben und Kultur Zu den für Sachsen charakteristischen Signaturen der Vorkriegszeit zählte das mit dem Industrialisierungspro- zess eng verknüpfte Phänomen der Urbanisierung. In der ohnehin städtereichen Region profitierten seit den 1880er Jahren nicht nur jüngere Industriestandorte wie Aue, Plauen oder Zwickau von einem rasanten Bevölke- rungswachstum. Auch die drei großen etablierten Kom- munen konnten durch Eingemeindungen und Stadter- weiterungen ihre Einwohnerzahl noch einmal stark ver- mehren: In Leipzig – der nach Berlin und Hamburg damals drittgrößten Stadt des Kaiserreichs – lebten um 1910 etwa 600 000 Menschen (1890: 380 000), in Dres- den 550 000 (1890: 276 000) und in Chemnitz 290 000 (1890: 140 000).Diese großstädtische Bevölkerungsbal- lung blieb nicht ohne Folgen für die kommunale Binnen- und Infrastruktur.Es entstand eine städtische Leistungs- verwaltung, deren Maßnahmen vom Wohnungsbau und der Stadthygiene über die Einrichtung öffentlicher Gas-, Wasser- und Elektrizitätswerke bis hin zur Modernisie- rung des lokalen Straßen- und Straßenbahnnetzes reichten. Bürgerlich und proletarisch geprägte Wohn- viertel schieden sich zusehends voneinander, Industrie- vororte entwickelten ein immer stärkeres Eigenleben.All das beförderte den innerstädtischen Warenverkehr, es entstanden Handelsketten und Kaufhäuser, von denen jene des Schocken-Konzerns herausragende Bedeu- tung erlangen sollten: Seit 1901 betrieb das jüdische Brüderpaar Simon (1874–1929) und Salman Schocken (1877–1959) von Zwickau aus die Errichtung von Waren- häusern imwestsächsischen Raum und schuf (bis 1930) die viertgrößte Warenhauskette Deutschlands mit über 20 Filialen in Sachsen. Es entsprach demweithin bürgerlich geprägten Selbst- verständnis des späten Kaiserreichs, dass auch in den drei sächsischen Metropolen damals große städtische Kultur- und Repräsentationsbauten errichtet wurden: Kunstgewerbemuseum,Rathaus und Schauspielhaus in Dresden, Deutsche Bücherei, Rathaus und Hauptbahn- hof in Leipzig, Opernhaus, Rathaus und Kunstmuseum in Chemnitz. Spezifisch »sächsische« Befindlichkeiten kamen in solchen Unternehmungen freilich kaum zum Ausdruck, und es ist ungewiss, ob die mannigfaltigen künstlerischen Bestrebungen, die vor 1914 ja auch in vielen anderen Städten und Residenzen Deutschlands zu beobachten waren, sich überhaupt noch, wie im Jahrhundert zuvor, regionalen Prägekräften verdankten und landesspezifische Stileigentümlichkeiten aufwie- sen.Das galt für die Erzeugnisse monumentaler Memo- rialarchitektur wie das 1913 eingeweihte Völkerschlacht- denkmal in Leipzig von Bruno Schmitz (1858–1916), für technische Großbauwerke wie die 1893 fertiggestellte Loschwitzer Elbbrücke (»Blaues Wunder«) des Ingeni- eurs Klaus Koepcke (1831–1911) in Dresden oder für expressionistisch gestimmte Avantgardegruppen wie die 1905 gegründete,ebenfalls in Dresden beheimatete Künstlervereinigung »Die Brücke« um die Maler Erich Heckel (1883–1976), Ernst Ludwig Kirchner (1880– 1938) und Karl Schmidt-Rottluff (1884–1976). Selbst stark lokal gebundene Architekturschöpfungen – etwa die seit 1909 in Hellerau bei Dresden entstehende erste deutsche Gartenstadt, die den Anliegen der Lebensre- formbewegung mit ihrer Vision von einem humanen, gesunden und umweltbewussten Wohnen praktischen Ausdruck zu verleihen strebte – waren keine sächsi- schen Besonderheiten, ähnliche Modernisierungsvor- haben gab es nahezu zeitgleich in bayerischen und preußischen Städten. Angesichts solcher Nivellierungstendenzen im preu- ßisch dominierten deutschen Nationalstaat vermochten sächsische Kulturtraditionen noch am ehesten dort zu überdauern,wo man sich seit jeher als Hauptträger lan- desstaatlichen Bewusstseins verstanden hatte: am Hof der Wettiner in Dresden.Obwohl persönlich vollkommen amusisch, verwendete Sachsens letztes gekröntes Haupt, König Friedrich August III., mehr als ein Drittel seiner privaten Einkünfte zur Förderung von Kunst und Kultur, wovon die Gemälde-, Antiken- und Naturalien- sammlungen der Residenz ebenso profitierten wie deren Konzert- und Theaterbetrieb. Immerhin gelang es auf diese Weise, den damals führenden Komponisten Deutschlands, Richard Strauss (1864–1949), zur Urauf- führung seiner Opern Salome (1905), Elektra (1909) und Der Rosenkavalier (1911) von Berlin in die sächsische Hauptstadt zu verpflichten. Die Dresdner Hofgesell- schaft öffnete sich in jenen Jahren immer stärker zum Bürgertum hin und entwickelte vor 1914 noch einmal beachtliche Strahlkraft als Stätte gesellschaftlichen Austauschs. Entsprechend lebhafte Resonanz fanden die von der Krone ausgehenden oder auf die Dynastie bezogenen Veranstaltungen.So war bereits die Gedenk- feier zur Erinnerung an das 800-jährige Herrschafts­ jubiläum des Hauses Wettin, vorbereitet von landesweit 2 Friedrich August III., König von Sachsen, nach einem Gemälde von K. J. Böhringer

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