Leseprobe
113333 Vorbemerkungen Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts durchdach- ten insbesondere Reformpädagogen und nicht wenige Herbartianer verstärkt theoretische Probleme der Bil- dung und des Unterrichts. So wurden zum Beispiel bemerkenswerte dialektische Ansätze zum Nachden- ken über den Unterricht erarbeitet und vor allem die För- derung der Subjektposition des Schülers in pädagogi- schen Prozessen erörtert. Sowohl äußere Faktoren – wie die sozialökonomischen Veränderungen in Deutsch- land und der Welt, die Erfolge der Naturwissenschaften, der technische Fortschritt und die Verschärfung des Konkurrenzkampfes in der internationalen Arena – als auch innere Faktoren, so die Anwendung von neuen Methoden in der pädagogischen Forschung, die Ent- wicklungstendenzen der Differenzierung des pädago- gischen und vor allem des psychologischen Wissens und anderes mehr, bewirkten Vorschläge für eine Än derung bzw. Modifizierung des gesamten Faktoren gefüges des Unterrichts und der Schulstrukturen. In derartigen Umbruchsepochen werden in der Regel die dynamischsten und interessantesten Denkleistungen hervorgebracht, weil Emanzipationsbewegungen neu- artige Fragen stellen und alte Fragen in neues Licht rücken. In diesem Beitrag wird an einem regionalen Fallbei- spiel einer der inneren Faktoren für die Schulreform- bewegung im Untersuchungszeitraum thematisiert. Im Fokus steht,wie sich der Profilierungsprozess der Psy- chologie im Allgemeinen sowie der in der Entwick- lungspsychologie im Besonderen auf basispädagogi- sche Schulreforminitiativen ausgewirkt hat.Der reform- pädagogische Anspruch in der Volksschullehrerbewe- gung, entwicklungsgerecht zu unterrichten und ent- wicklungsgemäß zu erziehen, ließ sich spätestens seit William Thierry Preyers Die Seele des Kindes (1882)1 nur realisieren,wenn sich ihre Berufskorporationen – quasi aus Eigeninitiative – um eine systematische Weiterbil- dung ihrer Lehrerschaft auf dem Gebiet der Psycholo- gie engagierten. Das vom 1846 gegründeten Leipziger Lehrerverein (LLV)2 eigens dafür geschaffene Institut für experimentelle Pädagogik und Psychologie wird zunächst als Ausgangsbedingung für nachfolgende unterrichtspraktische Reformbestrebungen vorgestellt. Schon damals gab es Konsens in der Frage, dass die Effizienz von Schulreformen von der Lehreraus- und -weiterbildung abhängt.Sodann erfahren die reichsweit umfangreichsten Versuchsklassenprojekte in Sachsen eine Würdigung,wobei natürlich das besondere Augen- merk auf Chemnitz gerichtet wird – zumal nur hier eine flächendeckende Resonanz der Versuchsklassenarbeit auf sämtliche städtische Volksschulen erreicht wurde. Das Leipziger Institut für experimentelle Pädagogik und Psychologie und seine Chemnitzer Außenstelle als wissen schaftliche Paten für die Versuchsklassenpraxis in Sachsen Die Etablierung des 1906 im LLV gegründeten Instituts für experimentelle Pädagogik und Psychologie – das erste dieser Art in Deutschland – geht auf eine Anzeige des Leipziger Lehrers Rudolf Schulze in der Leipziger Lehrerzeitung (LLZ) vom 14. März 1906 zurück.Schulze, der selbst einige Jahre das von Wilhelm Wundt im Jahr 1879 gegründete Psychologische Institut der Universität Leipzig kennengelernt hatte, rief zu einer Versammlung auf, um über die Gründung eines Instituts zu beraten. In diesem Aufruf mahnte er, dass die moderne – experi- mentelle – Psychologie WilhelmWundts zwar von Leip- zig aus die Welt eroberte, die deutsche Lehrerschaft sich bislang aber kaum mit der modernen Psychologie beschäftigt habe. Die Lehrerausbildung war nach Schulze nicht befriedigend; obwohl die Psychologie als die für die Pädagogen wichtigste Wissenschaft an gesehen wurde, ist sie nicht Bestandteil der Ausbildung gewesen. Darüber hinaus sei trotz der immensen Fort- schritte in der experimentellen Psychologie für die Anwendung ihrer Methoden in der Pädagogik nichts geschehen. Zudem waren die Anwendungsmöglich keiten experimenteller Psychologie begrenzt, da die erforderlichen Apparaturen in aller Regel die finanziel- len Möglichkeiten der Lehrer überstiegen. Die anvisier- ten institutionellen Voraussetzungen erschienen Schulze in Leipzig besonders günstig,weil Leipzig zum einen über das älteste und bedeutendste psychologi- sche Institut der Welt verfügte, zum anderen mit dem LLV in ausreichendem Maße finanzielle Mittel zur Ver- fügung standen. Außerdem sah Schulze in dem 1884 errichteten Vereinshaus des LLV, das erste seiner Art in Deutschland, den natürlichen Mittelpunkt für ein sol- ches Institut.3 Die Aufgaben des Instituts sollten zunächst sein, Lehrer in die experimentelle Psychologie einzuführen, ihnen Gelegenheit zu geben, selbstständige Untersu- chungen anzustellen, und das Interesse für die experi- mentelle Psychologie zu verbreiten. Das Institut für experimentelle Pädagogik und Psychologie des LLV wurde schließlich am 3. Mai 1906 gegründet. Die Lei- tung des Instituts übernahm bis 1919 der jüdische Erzie- 1 Die Höhere Knabenschule zu Chemnitz
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