Leseprobe

134 hungswissenschaftler Max Brahn, dem die Universität Leipzig wiederholt eine Professur verwehrt hatte.4 Anschließend wurde Rudolf Schulze bis 1933 Instituts- leiter. Anlässlich seines 80. Geburtstags wurde Wilhelm Wundt im August 1912 zum einzigen Ehrenmitglied ernannt. Das Ehrendiplom findet sich als Titelseite der Nummer 38 des LLZ (19. Jg.) vom 4. September 1912. Wundt schrieb dazu am 6. September 1912: »Dass die- ser Verein mich zum Ehrenmitglied desjenigen Instituts gewählt hat,das meinen eigenen Bestrebungen beson- ders nahesteht, gibt mir eine Anerkennung meiner psy- chologischen Arbeit,die ich über jede andere stelle. [...] Auch darf ich es ja aussprechen,dass die vortrefflichen Arbeiten, die aus dem Institut für experimentelle Päda- gogik und Psychologie des Leipziger Lehrervereins hervorgegangen sind, deutlich zeigen, wie fruchtbrin- gend eine solche Arbeitsteilung sein kann, wenn sich der Praktiker ebenso sehr der Notwendigkeit einer soli- den theoretischen Grundlage bewusst ist,wie der The- oretiker seinerseits den Blick auf das Ganze und auf den Zusammenhang der Gebiete richten sollte.«5 Die enge Verbundenheit der Leipziger Lehrerschaft mit Wilhelm Wundt wurde in der zeitgenössischen päda- gogischen Literatur immer wieder betont. So schrieb Schulze: »Wir Leipziger wissen genau, dass das expe- rimentelle Institut des Leipziger Lehrervereins unmög- lich gewesen wäre ohne Wundts Beirat und tatkräftige Unterstützung.«6 Auch die Außenwirkung des Instituts nahm bereits in den ersten Jahren beständig zu. So besichtigten Professoren aus Leipzig und Mannheim, aus Bulgarien, Chile, Rumänien, Russland, Polen und Japan das Insti- tut.7 Nach dem Leipziger Vorbild sind weitere Institute im In- und Ausland entstanden. An dieser Stelle sei stellvertretend auf die 1911 gegründeten Institute für Jugendkunde in Bremen, auf das an der Universität Breslau, die Berliner Arbeitsgemeinschaft für pädago- gische Psychologie sowie auf das von Ernst Meumann 1913 eröffnete Hamburger Institut für Jugendkunde hingewiesen. Zu dem international wohl renommier- testen und noch heute weltweit geschätzten Institut, das nach dem Vorbild des Instituts für experimentelle Pädagogik und Psychologie des LLV entstanden ist, entwickelte sich das 1912 von Edouard Claparède in Genf gegründete Institut Jean-Jacques Rousseau, dem 1925 das Bureau International d’Éducation angeglie- dert wurde, das kein Geringerer als Jean Piaget über vier Dekaden leitete.Diese Genfer Einrichtungen avan- cierten – bis in die Gegenwart hinein – zu den For- schungszentren der internationalen Dachorganisation der Reformpädagogik, der 1921 gegründeten New Edu- cation Fellowship.8 Das Leipziger Institut half auch mit, internationale Forschungsergebnisse auf dem Gebiet der Kinder- und Jugendpsychologie im deutschsprachigen Raum zugänglich zu machen. So wurde beispielsweise das 1903 in Amerika publizierte Werk von E. A. Kirkpatrik unter dem Titel Grundlagen der Kinderforschung 1909 übersetzt und bei Hahn (Bde. I – III) und bei Dürr (Bde. IV–VIII) in Leipzig durch den LLV herausgegeben. Die seit 1910 publizierten 20 – zum Teil sehr umfang- reichen oder mehrteiligen – Bände der Pädagogisch- psychologischen Arbeiten des Instituts für experimen­ telle Pädagogik und Psychologie verdeutlichen, wie – getreu dem Vorbild Wilhelm Wundts – Psychologie, Physiologie,Pädagogik und Philosophie stets miteinan- der verbunden wurden,wenn es galt,den Menschen als Gegenstand der Erziehung zu betrachten und die Mög- lichkeiten der menschlichen Natur und deren pädago- gische Beeinflussung zu bestimmen. Ist in den ersten Jahrgängen die direkte und indirekte Abhängigkeit vom Psychologischen Institut der Universität Leipzig unüber- sehbar, so gewann das Institut zunehmend ein eigenes Profil, als genügend qualifizierte Pädagogen in Arbeits- gruppen tätig werden konnten.9 Das reichsweit umfangreichste öffentliche Versuchsklassenprojekt 1911 bis 1914 in Leipzig, Dresden und Chemnitz Als die 1885 im LLV gegründete Methodische Abteilung im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts die basis­ pädagogische Initiative übernahm, erstmals imWilhel- minischen Deutschland reformpädagogische Unter- richtsauffassungen unter Regelschulbedingungen zu erproben, orientierte sie sich vor allem an den psycho- logischen Erkenntnissen der sogenannten Leipziger Schule, den Wundt-Schülern Felix Krueger, Friedrich Sander,Hans Volkelt,Otto Klemm und anderen, die den Nachweis der ganzheitlichen Auffassungen auf dem Gebiet der kindlichen Wahrnehmung führten. Diese Psychologen wiesen nach, dass besonders die Wahr- nehmung bei Kindern zunächst als eine mehr »gefühls­ mäßige Gesamtstellungnahme« vorhanden sei, auf die dann erst Differenzierungen und Analysen folgen könnten. Diese Erkenntnis wirkte sich unmittelbar auf die in Kooperation von Methodischer Abteilung und Institut für experimentelle Pädagogik und Psychologie des LLV erarbeiteten Forderungen nach einer zeitge- mäßen Unterrichtsreform aus – vorerst des Elementar- unterrichts. 2 Blick über den Körnerplatz mit Körnerschule (links) und Markus- kirche (rechts)

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