Leseprobe

Ausgerüstet mit reichen Praxiserfahrungen und ge­ stützt auf langjährige Bestrebungen für die Verbesse- rung der Lehr- und Lerntätigkeit in den Volksschulen, wurde im LLV seit etwa 1905 ein spezifisches Konzept für die Reform des Elementarunterrichts in der Grund- schule entwickelt, das später auch Anwendung in den höheren Klassen finden sollte. Immer wieder betonten die Unterrichtsreformer des LLV, die sich als Arbeits- schulpädagogen verstanden, dass »der Ruf ›Vom Kinde aus!‹ von mehr oder weniger radikalen Reformpädago- gen für sie keineswegs bedeute, die kindliche Laune und Willkür in den Vordergrund der erziehlichen Maß- nahmen zu stellen.« Ihr Ziel sei vielmehr, »die höchste geistige Aktivität des Kindes und eine beispiellose Schule für Selbstständigkeit des geistigen Handelns« zu errichten.10 Die Unterrichtsreformer des LLV bemüh- ten sich darum,alle pädagogischen Schlussfolgerungen für die Unterrichtspraxis aus dem neuesten Erkenntnis- stand der Wissenschaften, insbesondere der Psycho- logie,zu ziehen – und diesen wiederum selbst zu berei- chern, ohne die bewährten Traditionen, Erkenntnisse und Ideen der historischen Pädagogik und aller anderen fruchtbaren Ansätze in den Unterrichtstheorien zu ignorieren. Das bewahrte sie vor Überspitzungen und extremen Positionen – beispielsweise gegenüber dem Herbartianismus.11 »Darin aber, dass nicht etwas völlig Neues geschaffen, dass etwas Vorhandenes nur weiter ausgebaut werden soll, liegt zugleich die Schwierigkeit der Aufgabe. Da muss vorsichtig geprüft werden, was gut und erhaltenswert ist und was als lebensunfähig über Bord geworfen werden muss«, schrieb H.M. Schwarze 1902 als Vorsitzender der Methodischen Abteilung des LLV.12 Für das angestrebte altersgerechte Unterrichten nutzte die Methodische Abteilung seit 1906 die Zusammenarbeit mit dem Institut für experi- mentelle Pädagogik und Psychologie; zumal als Ziel- stellung für den »neuen Unterricht« ein auf entwick- lungspsychologischen Erkenntnissen beruhendes selbst­ ständiges und schöpferisches Lernen gefordert wurde, damit alle im Kinde liegenden Kräfte und Anlagen opti- mal gefördert werden und zur vollen Entfaltung seiner Persönlichkeit beitragen können. Die Unterrichtsreformer des LLV, Paul Vogel, Karl Rössger, Otto Erler und ihr »theoretischer Kopf«, Rudolf Sieber, redeten einem »aktiven Erkennen« das Wort. Und dafür müsse grundsätzlich beachtet werden, dass die Schülerinnen und Schüler die geistige Arbeit wei- testgehend selbstständig leisten sollen.13 Sie forderten, dass »im gesamten Unterricht Handlung, Tat, Arbeit, und zwar körperliche und geistige Arbeit, in inniger Ver- bindung gesehen werden muss«.14 Insbesondere das vom 28-jährigen Rudolf Sieber am 10. Dezember 1908 in der Methodischen Abteilung des LLV unterbreitete Arbeitsschulprogramm Die Arbeitsschule – Grundzüge für den Ausbau der Volksschule bildete die wesentliche Grundlage für die 1909 vom LLV herausgegebene gleichnamige theoretische Schrift, die allein bis 1922 vier Auflagen mit insgesamt 12 000 Exemplaren erlebte und nunmehr ihrerseits die Arbeitsschuldiskussion in Deutschland stark beeinflusste und auch ein internatio- nales Echo fand.15 Die Unterrichtsreformer des LLV drängten alsbald darauf, ihre theoretischen Vorstellungen zur Verbesse- rung der Unterrichtsarbeit im Rahmen eines umfangrei- chen Versuchsklassenprogramms praktisch zu erpro- ben. Ihr 1909 an die Leipziger Schulbehörde gerichtetes »Gesuch um Anstellung von Versuchen zur Umgestal- tung des Elementarunterrichts« zielte darauf, ausge- hend von der körperlichen und geistigen Entwicklung des Kindes, das verfrühte Einsetzen und Vorherrschen einer einseitig formalen Bildung (Lesen, Schreiben, schulmäßiges Rechnen) zugunsten eines Gesamtunter- richts hinauszuschieben. Bis zur dritten Klasse sollten die Kinder imWesentlichen von einem Lehrer unterrich- tet werden, der über hohe pädagogische Fähigkeiten verfügt. Für die sächsischen Unterrichtsreformer stan- den ähnlich orientierte Unterrichtsprojekte Pate wie die Berliner Reformpraxis Wilhelm Wetekamps oder wie sie die Bremer Reformpädagogin Magda Böttner, die Münchner Gesellschaft für Schulreform sowie Lehrer und Lehrerinnen in Halle (Saale), Zwickau, Worms und in Nordhausen initiiert hatten.16 1910 stimmte dann die Leipziger Direktorenkonferenz einem zunächst auf zwei Jahre beschränkten Versuchsklassenprojekt zu. Ab Ostern 1911 konnte an 21 Leipziger Schulen (16 Bezirks- und acht Bürgerschulklassen) mit der Versuchsklassen- arbeit begonnen werden. In den 19 gemischten, zwei Knaben- und drei Mädchenklassen bewegte sich die Klassenstärke zwischen 34 und 41 Lernenden. Die Leipziger Elementarklassenreform gab auch den entscheidenden Anstoß dafür, dass in Dresden seit 1911/12 mit 16 und in Chemnitz seit 1912 mit sieben Klassen eine ähnliche Versuchsarbeit durchgeführt werden konnte.17 Sowohl die Schulträger als auch die Versuchsklassenlehrer aller drei sächsischen Groß- städte selbst standen in einem regelmäßigen Erfah- rungsaustausch. In Dresden wurde sogar die Versuchs- dauer von drei Jahren gewährt, die sowohl den Refor- mern in Leipzig als auch denen in Chemnitz verwehrt worden war.So konnte Thümmler in seinem Bericht über die Dresdner Versuchsklassenarbeit besonders die Vor- 3 Josephinenschule

RkJQdWJsaXNoZXIy MTMyNjA1