Leseprobe
136 züge der dreijährigen Versuchsdauer herausstellen: »Das dritte Jahr wird gebraucht, um für die verschieden geförderten Kinder, als auch Klassen, den Anschluss an die Ziele des allgemeinen Lehrplans zu gewährleisten, während bei einem zweijährigen Zeitraum naturgemäß der Sachunterricht als Mittelpunkt des Arbeitsunter- richts viel zeitiger zurücktreten wird und um des zu erreichenden Anschlusses willen viel zeitiger, schon im zweiten Jahre, Übungen in den formalen Fertigkeiten den Hauptteil des Unterrichts bilden werden. Das dritte Jahr ist als sogenanntes Anschluss- oder Auslaufjahr nötig.«18 Für die Dresdner Versuchsklassenarbeit ist des Weiteren herauszuheben, dass sich mit der Lehrerin Maria Wilma Kannegießer, die eine Versuchsklasse an der 30. Bezirksschule führte, erstmals eine Frau in Sachsen der Verwirklichung von Reformpädagogik an Regelschulen stellte. Die von der Methodischen Abteilung des LLV stark beförderte und dem Leipziger Institut für experimentelle Pädagogik und Psychologie sowie der gleichnamigen Chemnitzer Institution wissenschaftlich begleitete sächsische Versuchsklassenarbeit wurde rasch zu einem zentralen Aufgabenschwerpunkt reformpädago- gisch orientierter Kreise in ganz Sachsen. Der 1848 gegründete Sächsische Lehrerverein (SLV) bemühte sich, derartige Aktivitäten zu koordinieren. So fand bei- spielsweise auf Einladung des Vorstands des SLV am 12. Januar 1913 in Chemnitz eine Klausurtagung aller sächsischen Versuchsklassenlehrer und ihrer Dresdner Kollegin statt.Wie groß das Interesse der Bezirkslehrer- vereine an der Versuchsklassenarbeit war, geht daraus hervor, dass 15 Lehrervereine Vertreter nach Chemnitz entsandt hatten. Während die sächsischen Unterrichtsreformer eine geradezu uneingeschränkte Unterstützung bei den eta- blierten Vertretern der Psychologie erhalten hatten, sah das sowohl bei der schulpolitischen Bildungsadminist- ration und sogar in einigen Reformpädagogik-Kreisen ganz anders aus. So avancierten einerseits Ernst Meu- mann oder Otto Scheibner zu ausgesprochenen Förde- rern der Versuchsklassenarbeit, hingegen ging der berühmteste sächsische Reformpädagoge, der Leipzi- ger Hugo Gaudig, auf Distanz zu den sächsischen Leh- rervereinen im Allgemeinen und ihren Unterrichtsrefor- men im Besonderen. Die Ursache dafür lag in Gaudigs geradezu einseitiger Überbetonung der systematischen Fachstruktur des Unterrichts, die ihn zu einer scharfen Ablehnung des Gesamtunterrichts – selbst für die Grundschule – veranlasste, indem er diese Unterrichts- formgar als »eine gefährliche Kulturwidrigkeit« bezeich- nete, was in logischer Konsequenz zu verfehlten Auf- fassungen über den Elementarunterricht führte, wie es schon Wolfgang Klafki Anfang der 1960er Jahre zu ana- lysieren wusste.19 Die lebhafteste Zustimmung hatte die Versuchsklas- senarbeit in Chemnitz erfahren. Die Chemnitzer Refor- mer konnten dabei sogar einen solchen Erfolg erzielen, dass der Beschluss gefasst werden konnte, ab Ostern 1914 alle 50 Chemnitzer Volksschulen nach diesem erfolgreich erprobten Reformprogramm für die Ände- rung der Grundschulpädagogik arbeiten zu lassen. Grund genug, die Versuchsklassen in Chemnitz nach- folgend explizit zu würdigen. Im internationalen Raum konnte eine solche flächendeckende Rezeption von Reformpädagogik nicht einmal für Genf ermittelt wer- den, wenngleich die dortige Vielfalt reformpädagogi- scher Angebote beispielgebend war.20 Infolge des Ersten Weltkriegs kam diese bis heute unerreichte Einflussnahme reformpädagogischer Initia- tiven auf das Chemnitzer Regelschulwesen jedoch ebenso wieder zum Erliegen wie die Versuchsklassen- projekte in Dresden und Leipzig. Die uneingeschränkt unterstützte Versuchsklassenarbeit in Chemnitz Die Chemnitzer Versuchsklassen stehen mit der im Chemnitzer Lehrerverein (CLV) 1910 gegründeten Ab teilung für experimentelle Psychologie und Pädagogik, quasi eine Außenstelle des Leipziger Instituts, im Zusammenhang.Der Wundt-Schüler Dr.Hans Keller und der seit 1910 amtierende Erste Stadtschularzt Dr. [später Prof.] Adolf Thiele leiteten diese Chemnitzer Abteilung seit dem 18. Januar 1910 gemeinsam. Vorausgegangen war ein Vortrag Brahns zur Kinderpsychologie und Päd- agogik.21 Es dürfte zu den ersten Amtshandlungen der Abtei- lung gehört haben, 1910 ein »Gesuch des Chemnitzer Lehrervereins an den Schulausschuss um Einrichtung von Versuchselementarklassen« formuliert zu haben, in dem es heißt: »1. Der Schulausschuss wolle für Ostern 1911 die Bildung einer Anzahl Elementarklassen veranlassen, in denen der Unterricht nach Stoff und Art des Betriebes auf Grund der neueren Forderungen für den ersten Unterricht erteilt wird. – 2. Der Schulaus- schuss wolle für die Lehrer einer solchen Reformklasse, die mindestens zwei Jahre durchgeführt werden müsste, nur das Ziel des 2. Schuljahres maßgebend sein zu lassen und sie für die beiden ersten Jahre von der Innehaltung eines eingehenden Lehr- und Stun- denplanes zu befreien. – Hinzu kamen die Bitten, mit dem Schreiben und Rechnen erst im zweiten Schuljahr zu beginnen und auch den Beginn des Leseunterrichts bis zu Herbst (bei Schuljahresbeginn Ostern) zu ver- zögern.«22 Anders als in Leipzig fand diese Bitte eine uneinge- schränkte Unterstützung durch die Direktoren sowie den Schulausschuss in Chemnitz. So konnte der Ver- such ohne Genehmigungsdebatten Ostern 1912 begin- nen. Zuvor war eine Sonderkommission des CLV, beste- hend aus Direktor Ernst Woldemar Laube, dem Dezer- nenten des Chemnitzer Volksschulwesens Johannes Georg Lehmann und einigen Volksschullehrern, nach Berlin-Charlottenburg, Schöneberg und München gereist, um verschiedene Umsetzungsmöglichkeiten des reformpädagogischen Arbeitsschulprinzips in der Praxis kennenzulernen und entsprechende Ideen mit nach Chemnitz zu bringen.23 Nach Rückkehr der Delegation wurden folgende sie- ben Schulen für die Versuchsklassenarbeit ausgewählt:
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