Leseprobe

197 realisierte Bauten oder Industrie- und Gewerbeprodukte. Bei den Blättern handelt es sich zwar »nur« um Drucke, die Aus- führung erfolgte aber in hoher Qualität, sowohl bei der Fotogra- fie als auch in der grafischen Gestaltung und der Verarbeitung. Die vorliegende Sammelmappe vereint Einzelmappen aus den Jahren 1909 bis 1912 und präsentiert Ergebnisse, die seit der Gründung des Vereins 1884 entstanden waren. Naturgemäß gehören einige Arbeiten noch zum gründerzeitlich geprägten Historismus des ausgehenden 19. Jahrhunderts,die Masse der Darstellungen stammt jedoch aus den Jahren nach der Jahr- hundertwende, als sich ein stilistischer Wandel in Architektur und Design vollzog. Man wollte Neues, allerdings ohne sich gänzlich von Traditionen und der Inspiration durch historische Vorbilder zu lösen. Daraus entwickelte sich die Auffassung einer »moderaten« oder »konservativen Moderne«, der nach dem Ersten Weltkrieg zwar Konkurrenz durch die »radikale Moderne« – etwa des Bauhauses – erwuchs, die jedoch den allgemeinen Geschmack und auch das Baugeschehen nicht nur in Deutschland noch lange bestimmte und erst in den Jahr- zehnten nach demZweitenWeltkrieg weitgehend verschwand. Der frühe Modernismus brachte eine große Variationsbreite hervor, dennoch empfindet man seine Zeugnisse als zeitlich und stilistisch zusammengehörig – bisher allerdings, ohne dafür einen einheitlichen Oberbegriff verwenden zu können. »Jugendstil« erweist sich hier als verfehlt, steht doch vieles, das auch in vorliegendem Mappenwerk gezeigt wird, dessen Prinzipien geradezu diametral gegenüber. Statt geschwunge- ner Linien und floraler Beschwingtheit begegnen uns das Beharren auf dem rechten Winkel,monumentale Schwere und Klassizität. Der Jugendstil, der in der Architektur nur einige wenige originäre Zeugnisse, vor allem in Belgien, Frankreich, Nordspanien und Österreich-Ungarn hervorbrachte, manifes- tierte sich mehr in der bildenden Kunst, in Design und Dekora- tion.Auch die hier vorliegenden Chemnitzer Arbeiten sprechen eine deutliche Sprache, werden Jugendstil-Elemente in der Architektur doch lediglich als schmückendes Beiwerk einge- setzt, wie unter anderem an dem Neubau für die Chemnitzer Neuesten Nachrichten (heute rudimentär als »Weltecho«, Annaberger Straße, erhalten), den Rudolf Bizan und Wenzel Bürger 1908 realisierten. Neben dem Jugendstil wirkten seit Beginn des 20. Jahrhun- derts deutschlandweit Strömungen auf Baugeschehen und Design, die heute oft nur noch am Rand Erwähnung finden. Zu nennen wäre hier der Heimatstil, der nationale und regionale Besonderheiten der Bautradition und die natürlichen Gege- benheiten stärker berücksichtigen wollte und seinen opti- schen Ausdruck in großflächigen Dachkonstruktionen, Dach- reitern, dekorativen Schaugiebeln oder Fachwerkelementen fand. Ein seinerzeit berühmter Gebäudekomplex, der das all- gemeine Architekturgedächtnis heute nicht mehr mitbestim- men kann, weil er verschwunden ist, war das Berliner Waren- haus Wertheim des seinerzeit hoch geschätzten Architekten Alfred Messel (1853–1909). Den Abschluss des ab 1896 in mehreren Etappen realisierten monumentalen Gebäudekom- plexes bildete der »Eckpavillon« von 1904 – ein stilprägender Bau, nicht nur was den kreativ-dekorativen Umgang mit histo- rischen Vorlagen betraf, sondern auch das eingesetzte Ober- flächenmaterial, den fränkischen Muschelkalk. Wertheim-Vorbild und Heimatstil beeinflussten das Chemnitzer Baugeschehen stark,ob in den Arbeiten auswärtiger Büros wie Schilling & Gräbner (Erneuerung Fassade Jakobi-Kirche 1912) und Wilhelm Kreis (Kaufhaus Tietz 1913) oder von einheimi- schen Architekten, insbesondere Richard Möbius (u.a. André- Schule 1908,König-Albert-Museum 1909,Neues Rathaus 1911), Erich Basarke (u.a. Bernsdorfer Schule 1910, Handelskammer Carolastraße 1910–1912, Urnentempel Stadtfriedhof ca. 1911, Umbau Johanniskirche 1913) oder dem bereits erwähnten Wenzel Bürger.Arbeiten dieser Architekturbüros werden in der Mappe vorgestellt – dass Chemnitz sich auf der Höhe der Zeit befand, demonstrieren aber auch Beispiele zur Innenarchitek- tur, zur baubezogenen Kunst oder des Textildesigns. Im Fotobestand des Schloßbergmuseums befinden sich Fotos von Gebäuden und Innenarchitektur aus dem Archiv der heute nicht mehr existenten Druckerei Pickenhahn. Nachweislich wurden diese auch als Druckvorlagen benutzt, allerdings nicht für Blätter des vorliegenden Mappenwerks, sondern für andere Veröffentlichungen, wie die Festschrift zur Weihe des Neuen Rathauses 1911.Möglicherweise sind die Vorlagen für die Map- pen des Kunstgewerbevereins verloren gegangen, es ist jedoch nicht ausgeschlossen,dass zumindest Teile in anderen städtischen Sammlungen noch existieren, etwa den Kunst- sammlungen, dem Stadtarchiv oder dem Industriemuseum. Leider fehlte im Schloßbergmuseum bisher die Zeit, dies zu recherchieren. PE Objekt bislang unpubliziert 20 Gebäude des Chemnitzer Bank-Vereins am Johannisplatz, um 1912

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