Leseprobe

1133 Im neuen Reich Entgegen manchen Befürchtungen und Erwartungen war die territoriale Integrität des albertinischen König- reichs nach dem Krieg von 1866 zwischen Preußen und Österreich nebst seiner Verbündeten, zu denen auch Sachsen gehört hatte, vollständig gewahrt worden. Das Land trat dem von Preußen dominierten Norddeutschen Bund bei und akzeptierte die sich daraus ergebenden Einschränkungen seiner Souveränitätsrechte. Es verlor, wie alle anderen Beitrittsländer, seine völkerrechtliche Handlungsfreiheit, doch vermochte eine Reihe staatli- cher Befugnisse zu bewahren.Dazu zählten Zuständig- keiten im Bereich der Bildungs- und Kulturpolitik, der Gesetzgebung und der Rechtsprechung sowie, nicht zuletzt, der Steuererhebung. Das galt auch nach der Gründung des Deutschen Rei- ches 1871.Diesmal jedoch hatte man in Dresden im Ein- klang mit dem preußischen Nachbarn gestanden. Kein Geringerer als der damalige sächsische Kronprinz und spätere (seit 1873) König Albert (1828–1902) (Abb. 1) hatte im September 1870, nach seiner Ernennung zum Kommandeur der neu gebildeten Maas-Armee, ent- scheidenden Anteil an der Kapitulation des französi- schen Heeres bei Sedan. Das verlieh ihm hohe Popula- rität und sicherte seinem Land Ansehen und Prestige in ganz Deutschland, auch und gerade in Berlin. Die beiden nach der Reichsgründung von 1871 unter Leitung von Richard Freiherr von Friesen (1808–1884) und Alfred von Fabrice (1818–1891) bis 1891 amtieren- den sächsischen Staatsministerien haben sich dann mit einigem Erfolg darum bemüht, Reichs- und Landes­ interessen aufeinander abzustimmen und so nicht nur traditionell antipreußische Ressentiments bei der Be­ völkerung abzubauen, sondern auch der kleindeut- schen Nationalstaatsgründung insgesamt wachsende Akzeptanz im Land zu verschaffen. Eine umfassende Neuordnung der inneren Verhältnisse und eine reichs- freundliche Politik, die sich an den Gesamtinteressen des neuen deutschen Nationalstaates orientierte,waren dabei in den 1870er Jahren eng aufeinander bezogen. Lediglich der von Otto von Bismarck betriebenen Über- nahme aller landesstaatlichen Eisenbahn-Strecken- netze durch das Reich setzte Sachsen einen hartnäcki- gen und letztlich erfolgreichen Widerstand entgegen. Nach 1873 wurden die zunächst weitgehend in privater Verantwortung betriebenen Lokalbahnen zunehmend in königlich sächsischen Staatsbesitz überführt, sodass die Idee einer »Reichseisenbahn« damals scheiterte. Sachsen blieb im Besitz eines weitgespannten Eisen- bahnnetzes,dessen Dichte damals, vor allem imWesten des Landes und im Erzgebirgsraum, von keinem ande- ren deutschen Flächenstaat übertroffen wurde. Parteien und Wahlen Schon vor der Reichsgründung hatte sich die partei- politische Entwicklung im albertinischen Königreich durch eine Reihe besonderer Charakteristika ausge- zeichnet.Angesichts der konfessionellen Gemengelage gab es hier keinen politischen Katholizismus, sodass sich das Parteienspektrum auf vier große Gruppierun- gen beschränkte: die Konservativen,die Nationallibera- len, die Radikaldemokraten und die Vertreter der Arbei- terbewegung. Darüber hinaus waren, ähnlich wie im viktorianischen England, bürgerliche und proletarische Demokraten bis zur Reichsgründung eng miteinander verknüpft und aufeinander bezogen.Auch hatte sich vor 1871 in allen parteipolitischen Gruppierungen des Lan- des – mit Ausnahme der Nationalliberalen – eine ent- schieden bekundete Abneigung gegen einen preußisch dominierten kleindeutschen Nationalstaat geregt. Nach dessen Etablierung verschoben sich dann frei- lich die politischen Zuordnungen und Gewichte. Im sächsischen Abgeordnetenhaus dominierten hinfort jahrzehntelang die Konservativen, zumal unter der Füh- rung ihres einflussreichen und flexibel agierenden Pro- tagonisten Paul Mehnert (1852–1922),der von 1899 bis zum Ende der konservativen Vorherrschaft im Parlament 1909 als Landtagspräsident amtierte. Die Nationallibe- ralen – repräsentiert durch ihren politisch-publizisti- schen Exponenten Karl Biedermann (1812–1901) – ver- loren,nach einem kurzzeitigen Höhenflug bis zum Ende der 1870er Jahre, stark an Bedeutung und konnten erst wieder im neuen Jahrhundert an Boden gewinnen. Die politische Arbeiterbewegung wiederum verdankte ihre außerordentliche Stärke nicht nur dem hohen Industria- lisierungsgrad und Städteanteil in der Region, sondern auch,wie erwähnt,dem frühen Zusammengehen sozia- listischer, radikaldemokratischer und linksliberaler Kräfte in der 1866 von Wilhelm Liebknecht (1826–1900) und August Bebel (1840–1913) in Chemnitz gegründeten Sächsischen Volkspartei. Die Partei gewann bei den Wahlen zum Reichstag des Norddeutschen Bundes 1867 drei Mandate, ging dann aber mit der Mehrzahl ihrer Mitglieder in der 1869 etablierten, nunmehr klar sozialistisch ausgerichteten Sozialdemokratischen Arbeiterpartei auf,der späteren SPD. 1877 gelangte erst- mals ein Sozialdemokrat in den Sächsischen Landtag, im reichsdeutschen Vergleichsmaßstab waren die aus Sachsen stammenden Anhänger und Mitglieder der SPD deutlich überproportional vertreten. Das Königreich der Wettiner blieb auch in der Folgezeit eines der Zentren der politischen Arbeiterbewegung Deutschlands. Das politische Leben Sachsens war in den beiden letzten Jahrzehnten vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs von erheblichen Turbulenzen geprägt.Das albertinische Königreich erwies sich als der einzige deutsche Flä- chenstaat, in dem es zwischen 1871 und 1918 nicht zu einer fortscheitenden Liberalisierung, sondern zu einer reaktionären Rückbildung des Wahlrechts kam. Dabei hatte eine noch unter König Johann (1801–1873) 1868 realisierte Reform den Kreis der Landtagswahlberech- tigten zunächst auf alle Bürger mit einem festen Steuer- aufkommen von geringer Höhe erweitert,wodurch zahl- reichen Angehörigen der Arbeiterschaft das Privileg der Stimmabgabe zufiel. Entsprechend deutlich war das Votum für die SPD. Bei den Landtagswahlen von 1895 lag ihr Stimmenanteil bereits bei 32,5 Prozent.Um einen weiteren Anstieg der sozialdemokratischen Abgeord- netenmandate zu unterbinden, beschloss die konser-

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