Leseprobe

97 siert, als er in einem Brief von 1949 davon sprach, dass er in seinen neuen Bildern etwas anderes als früher schaffen und »eben doch sehr viel tiefer gehen und eine umfangreiche geistige Welt aufbauen« wolle.4 Zu Recht wurden in diesem Kontext von einem »Spiritualisierungs­ vorgang« gesprochen und das »kontemplative« Ritual des Malens hervorgehoben, welches jenen »hohen Abstraktionsgrad« bewirkte, indem »die malerischen Mittel als Malmotiv mehr und mehr das äußere Sujet« überspielen.5 Es ist die Malerei als Prozess und Experiment, was die Venedig-Bilder im Œuvre des Künstlers so neu und einzigartig macht. Überraschend mag sein, dass sich der Künstler trotz seiner explizit geäußerten Abneigung gegen Fotoklischees6 offensichtlich einer Fülle von foto­ grafischem Material unterschiedlichster Quellen bediente, um die Motive seiner Bilder vorzubereiten.7 Seit 1947 entstanden zu diesem Thema auch etwa 60 Zeichnungen in teilweise größeren Formaten und ein 30 kleinere Seiten umfassendes Skizzenbuch mit überwiegend rasch notierten Erinnerungsskizzen.8 Alle diese Blätter sind aber nur zum Teil exakt bestimmbare Studien oder gar unmittelbare Entwürfe mit Farbangaben für später ausgeführte Bilder. Der eigentliche Vorgang des Schöpferischen fand nicht primär über das Vehikel des Mediums Zeichnung, sondern unmittelbar auf der Leinwand oder der Pappe als Bildträger statt. Hier erst ereignete sich die »verwandelnde Kraft der Malerei«9 in all ihrer Unvorhersehbarkeit und experimentellen Vielfalt. Ein Gemälde wie etwa das 1949 entstandene Venezia, Ca’ d’Oro (Abb.1) offenbart dies wie in einem Paradigma. Fast könnte man den Eindruck gewinnen, das Bild sei unfertig geblieben. Der Maler lenkt unseren Blick von den Vordergrundmotiven der beidseitig rahmenden, wuchtigen Palazzi über den mit Gondeln und Booten bevölkerten Canal Grande. Am Ufer gegenüber schimmert von Weitem die berühmte Ca’ d’Oro, zart und filigran. Schon durch die räumliche Entfernung wirkt dieses Juwel der venezianischen Spätgotik beinahe wie entrückt, eine helle, flim- mernde Erscheinung. Alle der überwiegend blassen Farben auf diesem Bild sind von gleichsam lasurartigem Charakter und stehen transpa- rent auf dem Grund der Leinwand. Architekturteile der Loggia im rechten Vordergrund hat der Maler mit dickem anthrazitfarbenem Stift grob konturiert, als wollte er Grundstrukturen wie in einer Entwurfs­ zeichnung bewusst sichtbar lassen. Die durchweg eher dünne, trockene Farbe wurde mit wuchtigen Pinselstrichen auf die ihr zugeteilten Felder gesetzt. Die Zone oberhalb des Dachs der Ca’ d’Oro und somit letztlich der gesamte Hintergrund bleiben im Vagen. So ist kaum auszumachen, was mit den beinahe abstrakt anmutenden wolkenartigen Formationen in Braun und Grün angedeutet werden soll. Am ehesten lässt sich das Blau darüber als Bereich des Himmels ausmachen. Die im Fokus befind­ liche gotische Palastfassade schließlich erscheint von einem fein­ maschigen Gespinst aus gekratzten weißen Strichen unterschiedlicher Richtung und Länge überfangen. Hierdurch wirkt der Bau am anderen Ufer des Canal Grande nicht nur räumlich distanziert, sondern es scheint ihn zusätzlich eine eigentümlich spirituelle Magie zu umgeben. What makes the Venice pictures so new and unique in the artist’s oeuvre is the focus on painting as process and experiment. It may come as a surprise that, despite his explicitly stated dislike of photographic clichés,6 the artist obviously used a wealth of photographic material from diverse sources when preparing the motifs of his paintings.7 Since 1947 he had also done about 60 drawings on this theme, some of them in larger formats, as well as completed a book of 30 smaller pages filled mainly with swiftly noted memory sketches.8 Not all of these works, however, could be precisely defined as studies or even direct preliminary studies complete with notes on colours for paintings done at a later date. The actual creative process did not take place primarily through the vehicle of the drawing medium, but directly on the canvas or board. It was here that the “transforming power of painting”9 took effect in all its unpredict- ability and experimental diversity. A painting like Venezia, Ca’ d’Oro (fig. 1) dated 1949 reveals this almost paradigmatically. One could get the impression that the work has been left unfinished. The artist directs our gaze away from the framing fore- ground motifs of the bulky palazzi on each side of the Canal Grande populated with gondolas and boats. On the opposite bank, the famous delicate and filigree Ca’ d’Oro shimmers from afar. Due to the spatial distance alone, this jewel of Venetian late Gothic seems almost other-­ worldly, with its bright, flickering appearance. All the predominantly pale colours in this painting are glaze-like in character, as it were, forming an Abb.1 Max Peiffer Watenphul, Venezia, Ca’ d’Oro , 1949, Öl auf Leinwand, 75×59,8 cm, Privatsammlung Fig.1 Max Peiffer Watenphul, Venezia, Ca’ d’Oro , 1949, oil on canvas, 75×59.8 cm, private collection

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