Leseprobe

016 Um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert erlebte das Theater in Berlin einen enor- men Schub in Richtung Mo- derne. 1883 rief der Theaterkri- tiker Adolph L’Arronge ein neues Theater, das spätere Deutsche Theater, ins Leben und erarbeitete einen Spielplan mit klassischen, aber auch zeitgenössischen Stücken. Als 1894 die erste Aufführung der Weber von Gerhart Hauptmann stattfand, kündigte Kaiser Wil- helm II. aus Protest die Hofloge – die Reformierung des Thea- ters war angestoßen. Von 1894 bis 1903 leitete Otto Brahm (1856–1912) das Deutsche The- ater. Er brachte weitere zeit­ genössische Stücke auf die Bühne und setzte Autoren wie Hauptmann, August Strindberg und Arthur Schnitzler durch. Ihm folgte 1905/06 Max Rein- hardt (1873–1943) als Intendant und Eigentümer. Mit einem umfassenden Repertoire an Stücken, verschiedenen Stil- richtungen und einem exzellen- ten Ensemble machte er das Deutsche Theater binnen weni- ger Jahre zum Zentrum deut- scher Theaterkunst. Reinhardt war nach Brahm einer der ers- ten Intendanten, der für die Gestaltung der Bühnenbilder gezielt mit Malern zusammen- arbeitete, so mit Edvard Munch, Lovis Corinth und seit 1904 auch mit Max Slevogt. 3 Auch die ehemals Königliche Hofoper im historischen Zent- rum Berlins erlangte in den ersten Jahren des 20. Jahrhun- derts durch Dirigenten wie Ri- chard Strauss internationale Bedeutung. 4 Nach dem Zusam- menbruch des Kaiserreichs wurde sie 1918 zur Staatsoper Unter den Linden und konnte durch das Engagement von Wilhelm Furtwängler, Erich Kleiber und Otto Klemperer an ihren Ruhm der Vorkriegszeit anknüpfen. Zu den Opernstars dieser Zeit gehörte der portu- giesische Bariton Francisco d’Andrade (1859–1921). 5 In Mai- land ausgebildet und 1882 in Verdis Aida in San Remo zum Durchbruch gelangt, führten ihn verschiedene Gastspiele an die Opern in Rom, Moskau und London, bis er sich 1891 in Ber- lin niederließ, wo er 1897 in der Krolloper seinen ersten Auftritt in seiner Paraderolle als Don Giovanni hatte. Als er Ende des Jahres 1901 im Theater des Westens erneut als Don Gio- vanni auftrat, war Slevogt nachweislich live dabei. 6 Seine größten Erfolge feierte d’An- drade als Graf Almaviva in der Hochzeit des Figaro , als Rigo- letto und als Don Giovanni, dessen Rolle er bis zu seinem Abschied von der Opernbühne 1919 sang. Abgesehen vom modernisier- ten Theaterbetrieb etablierten sich im Berlin der 1920er Jahre auch andere Vergnügungen. 7 Die Schnelllebigkeit der Metro- pole, die wechselnden politi- schen Kräfte und die unter- schiedlichen Lebenswelten der modernen Stadt förderten die Entstehung des Kabaretts und der Tanzrevue. Die Zurschau- stellung des leicht bekleideten, weiblichen Körpers in Verbin- dung mit exotischen Kostümen und schnellen Rhythmen wurde bald zur Erfolgsformel. Gemieden von den einen und begeistert aufgenommen von anderen, waren Musikdarbie- tungen, Theateraufführungen und Revuen auch für Slevogt eine höchst willkommene In- spirationsquelle. Auf Empfehlung des Theater- kritikers Theodor Goering be- suchte Slevogt 1894 eine Auf- führung der Oper Don Giovanni und erlebte erstmals den por- tugiesischen Sänger Francisco d’Andrade: »Der Dirigent hatte die Proben nicht selber geleitet und gab beim Champagnerlied entsprechenden Einsatz. Aber was war das? Der Gast riß ihn von Takt zu Takt in immer tolle- rem Tempo mit, so dass am Schluss der Kapellmeister […] den Taktstock hinwarf und be- geistert klatschte: ›Da capo! Da capo‹! Jetzt war’s der Diri- gent, der mit seinem Orchester ein rasendes Tempo nahm. Aber Francisco d’Andrade über- trumpfte es!« 10 Wie der Slevogt-­ Freund und Biograf Johannes Guthmann (1876–1956) weiter berichtete, war Slevogt restlos begeistert: »Er hatte nicht nur in der Vollendung der Sanges- kultur […] geschwelgt, sondern hatte auch […] den Triumph des geborenen Operngenies er- lebt.« 11 Der glanzvolle Auftritt hatte musikalisch einen nach- haltigen Eindruck hinterlassen – künstlerisch blieb das Erleb- nis zunächst ohne Folgen. Mitte der 1890er Jahre beschäf­ tigten Slevogt ganz andere Themen. 1893 hatte er mit der Ringerschule ein großforma­ tiges Aktbild vorgestellt, das motivisch an Leibl erinnernde Bild Feierstunde vollendet und an verschiedenen historischen Sujets gearbeitet. 12 Theater­ reformen, Opernstars, Kabarett und Revue Vergnügungen in der Metropole Berlin »Mit Ohren und Augen durch Jahrzehnte begleitet« 8 Slevogt malt Francisco d’Andrade in seiner Paraderolle Mehr noch als Theater- und Revuevorstellungen haben Opernaufführungen – allen voran Mozarts Don Giovanni und Die Zauberflöte – Slevogts Fantasie beflügelt und zur Ent- wicklung des Künstler-Rollen- porträts geführt. 9 Noch lange vor dem Umzug nach Berlin entdeckte er in München seine Faszination für die Oper.

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