Leseprobe
Gottfried Kohls zeichnerisches Werk 95 1943wurde Kohl nach Italien abkommandiert und vor Rom stationiert. In den fast zwei Jahren seines dortigen Aufenthaltes entstanden wiederum Porträts, zudem Ansichten römischer Ruinen und der Via Appia [S. 162, 164] sowie Aktstudien nach einem römischenModell [Abb. 128], die den Charakter von Schülerarbeiten hinter sich gelassen haben. In Rom, das ab August 1943 als sogenannte Offene Stadt nicht verteidigt, daher nicht angegriffen oder bombardiert werden durfte, war er im Drei- Schicht-System tätig und konnte sich ansonsten in Zivil gekleidet frei in der Stadt bewegen. Als Soldat führte er damit ein privilegiertes Leben, in dem sogar Ausflüge und Reisen möglich waren. 214 Darüber hinaus fand er an der Villa MassimoGelegenheit zumAktzeichnen. Im Jahr 1944 beteiligte er sich von Romaus an der achten »Großen Deutschen Kunstausstellung imHaus der Deutschen Kunst zuMün- chen«, wie aus Aufklebern auf vier Zeichnungsrückseiten hervorgeht. 215 Einige Blätter wie zumBeispiel das Profil eines »Malers Jasper« oder eines »Tiroler Bergbauern« stellte Kohl später erneut aus. 216 Auch in Rom selbst fand er dieMöglichkeit zu einer Ausstellung, und im Faltblatttext wurden nicht nur die dort entstandenen Blätter beschrieben, sondern auch das darin wahrgenommene Potential für künftige Werke ausgedrückt, wenn es über ihn heißt: »Die wenigen freien Stunden benutzt er dazu, um seinem künstlerischen Trieb Ausdruck zu verleihen, und die so entstandenen Zeichnungen sind ein bemerkenswerter Beweis seiner künstlerischen Reife. In seinen groß angelegten Arbeiten empfindet man sofort die Hand des Bildhauers, der gewöhnt ist, der Materie feste Form zu verleihen. Aber außer der in einem jungen Künstler ungewöhnlichen Sicherheit der Formerfassung und des beruflichen Könnens erhebt der geistige Gehalt viele seiner Blätter zu wahren Kunstwerken und dies ist wohl der schönste Preis für die in so ungewöhnlichen Verhältnissen entstandenen Arbeiten.« 217 In den überlebensgroßen Bildnisstudien seiner römischen Zeit konzentrierte sich Kohl ganz auf das jeweilige Antlitz. Bruststücke, Halb- oder Ganzfigurenbildnisse sind nicht überliefert, sodass Attribute, Kleidung und Habitus als Ausdrucksträger entfielen. Er nutzte die Zeichenkohle mit ihren kurzen, breiten, tiefschwarzen Strichen und der Möglichkeit, durch das Verwischen der Pigment- partikel verschieden graue Flächen zu erzeugen, dadurch ist sein Zeichenstil in dieser Phase weniger linien- als flächenbestimmt. Gelegentlich gab er auf dieseWeise Schattenpartien an, umdas Gesicht und manchmal noch den Halsansatz plastisch hervortreten zu lassen. In der Art, wie er die Flächen von Stirn, Schläfen, Jochbein, Wangen, Nase und Kinn wiedergab, erwies er sich inzwischen als erfahrener Porträtist, der die individuellen Züge der Dargestellten – junger Frauen undMänner, Zivi- listen wie Soldaten – sicher erfasste. Darunter befanden sich Bildnisse italienischer Kollegen wie »Ein italienischer Maler« oder »Der italienische Karikaturist NALIN« sowie Porträtstudien, die in Venedig oder in Ravenna entstanden. Mit leer gelassenen bzw. radierten Stellen Papiers markierte er erhöhte Partien und erweckte damit den Eindruck von auf der Oberfläche spielendem Licht. Auf diese effektvolle Weise arbeitete er den Typus heraus, darunter von Fischern aus Malcesine und Torbole amGardasee, vonSüdtirolerWein- undBergbauern, deren lange, wettergegerbtenGesichter ihn offensichtlich beeindruckten [Abb. 130]. Zusammen mit seiner Verlobten Hermine Kehr, die ihn in Tirol besuchte, plante er ein – unveröffentlicht gebliebenes – Buch mit derartigen Typenporträts, zu denen sie Geschichten verfasste. 218 Im selben Stil entstanden vier frontale Selbstbildnisse, in denen ihn ebenfalls vorrangig die Wiedergabe der Höhen und Tiefen, der Volumina seines Gesichts interessierte. Zwei dieser Selbst- porträts weisen weichere Züge auf [Abb. 132, 133], während er in einem anderen sein Spiegelbild scharf fixiert [S. 116]: Das Licht kommt von beiden Seiten, sodass Stirn und Nasenrücken im Schat- ten liegen. Diese Blätter berühren noch heute durch ihre besondere Intensität, den Ernst, mit dem der junge Mann sich selbst wiedergab. Italien 1943/44 – Rom und Südtirol
Made with FlippingBook
RkJQdWJsaXNoZXIy MTMyNjA1