Leseprobe

10 Exkurs Woran erinnere ich mich, wenn ich an meinen Vater denke? Wenn ich die Fotos im Familienalbum betrachte, sehe ich einen schlanken jungen Mann auf einem Motorrad, ein kleines Mädchen auf dem Benzintank vor sich, im Hintergrund das Piratenhaus in Wieck auf demDarß (Ostsee) [Abb. 1]. Auf einemanderen Foto sitzt dasMädchenmit seiner kleinen Schwester auf einem Schaukelpferd im Garten in Dresden, dasselbe Schaukelpferd ist auch auf einem Ausstellungsbild einer Messe im Leipziger Grassi zu sehen [Abb. 30]. Das Mädchen mit der Puppe, eine Kinderfigur, die in Dresden rechts neben dem Gartenweg stand und irgendwann, weil sie nur ein Gipsmodell war, wetterbedingt verrottete und zerfiel, findet sich auch auf einer Bildtafel, die erhalten geblieben ist [Abb. 87]. Die Plastik soll vor einer Freiberger Poliklinik gestanden haben und scheint nach der Wende verloren gegangen zu sein. Hier beginnen sich die Vaterbilder zu verdoppeln, die Erinnerungen betreffen eben nicht nur den Familienvater, der eines Tages die Familie verließ, sie zeigen den Mann, der als Bildhauer an einem Werk arbeitete, und den ich, die erstgeborene Tochter, jahrzehntelang in Freiberg besuchte. Die Erinnerung zeigt mir das Bild des Ateliers, in das wir bei jedemmeiner Besuche zuerst gingen, kaumdass ich denMantel ausgezogen hatte. Das Atelier war sein liebster, sein eigentlicher Ort. Dort wollte er mir zeigen, woran er gerade arbeitete. Wenn ich es recht überlege, ist es dieser rasche, unbedingte erste Gang ins Atelier, der mir einen Begriff von Arbeit vermittelt hat. Seine Arbeit war künstlerische Arbeit. Er brauchte keine Ferien von dieser Arbeit, sie bestätigte ihn, durch sie und in ihr kam er zu sich selbst. Dieser positive Begriff von Arbeit hat mich geprägt, auch wennmeinMediumdasWort und nicht das Bild ist. Das Ringen um die Form ist in beiden Ausdrucksweisen zentral. Eva Maria Kohl An

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