Leseprobe

Exkurs 13 In den letzten Lebensjahren wirkte er zunehmend bedrückt, weil er nicht wusste, wohin seine Figu- ren, seine schönenMädchen, seine Tiere, die vielen Porträts, gehen würden, wenn er nicht mehr bei ihnen wäre. Noch standen sie unter seinem Schutz, waren seine wichtigsten Gefährten. Jeden Tag, auch noch mühsam im Rollstuhl sich bewegend, ging er zu ihnen. Die Plastiken, die im öffentlichen Raumstanden, waren versorgt, das war ihmbewusst, aber die anderen?Das Ganze?Was ich damals noch nicht wusste, war, dass auch Hunderte von Zeichnungen zu diesem Nachlass gehörten. Über sie sprach er kaum, sie waren für ihn vielleicht nur Markierungen auf einemWeg, den er ging. Dass man das auch anders sehen kann, entdecke ich erst heute, wenn ich die Blätter betrachte. Viele von ihnen sind nicht nur Mittler, sie haben ein eigenes Leben. Wir standen also in seinem Atelier, das auf dem Grundstück seines Hauses lag, ein schöner Bau mit viel Licht, das durch die hohen Atelierfenster hereinkam. Ich fotografierte, wie immer, sah mich um und hörte ihm zu. Heute weiß ich, dass das Atelier sein Freund, der Dresdener Architekt Rolf Göpfert [Abb. 44], entworfen hat. Er hatte ihn auch Anfang der fünfziger Jahre nach Berlin zur Gruppe um den Archi- tekten Hermann Henselmann geholt, die an der Weberwiese und der damaligen Stalinallee das Aufbauwerk Ost vorantrieb. Mein Vater war für den ornamentalen Schmuck an den Häuserwänden und für manche Reliefs und Aufbauten zuständig [S. 127 ]. Ich erinnere mich, dass wir irgendwann in den späten achtziger Jahren zusammen an diese Plätze in Ostberlin gingen und er mir einiges zeigte und wohl auch erzählte. Dieser Ausflug ist in meinen Erinnerungsbildern jedoch nur verschwommen aufrufbar. Mein heutiges Wissen stammt aus den Materialien und Fotos, die ich bei der Auflösung des Ateliers und Haushalts gesichtet und dann bewahrt habe, und es stammt aus den Tonbandaufzeichnungen, die ich jetzt, 25 Jahre später, wieder anhöre. Zusammen mit meiner Schwester Barbara war ich mit ihm 1996 an den Gardasee in Italien gefahren, dahin, wo er im Krieg gewesen war, dort hatte er mir mehrere Stunden auf Tonband gesprochen; ich hatte es damals für nicht besonders aussagekräftig gehalten und die Kassetten in eine Schublade gesteckt. Mit dem Abstand von 25 Jahren ändert sich das vollkommen. So werden die Erinnerungen und das Wissen zwei Pole der Annäherung an meinen Vater, den Bildhauer Gott- fried Kohl, die in diesem Text aufeinandertreffen werden. In den Tonbandgesprächen frage ich ihn nach seinen Eltern. Er entwirft mir das Bild seines Vaters als eines äußerst gewissenhaften Handwerkers, der, zunächst in seiner Freiberger Werkstatt am Petriplatz und später in der Kesselgasse [Abb. 4], Schalen, Teller, Holzschnitzarbeiten anfertigte und verkaufte. DieMutter [Abb. 3], ebenfalls als sparsamund gewissenhaft beschrieben, die ihren Sohn über alles liebte, zeichnete Stickmuster und Pflanzen, einige ihrer Handarbeiten sind erhalten. Die Großeltern mütterlicher- und väterlicherseits waren Bergleute, wovon mein Vater mit Respekt sprach und in verschiedenen Zusammenhängen betonte, da komme er auch her, aus der erz- gebirgischen Tradition des Bergbaus, das seien seine Wurzeln, das sei sein Zuhause. Bei der Frage danach, warum er unbedingt habe Holzbildhauer werden wollen, obwohl seine Mutter eine gymna- siale Bildung und einen akademischen Beruf für ihn favorisierte, erzählte er mir von der Drechselbank seines Vaters am Petriplatz, unter der er als kleiner Junge gehockt, seinem Vater beim Schnitzen zugesehen und den Geruch der Holzspäne geatmet habe. Das wollte er auch können, nichts anderes, und setzte eine Ausbildung zum Holzbildhauer gegen denWiderstand seiner Mutter durch. Er ging bei seinem Vater in die Lehre, später bei einem Dresdener Meister. Sein Zeichentalent entwickelte er bei seinemvon ihm sehr bewunderten Zeichenlehrer Helmut Rudolph und in Abendkursen an der Dresdener Kunsthochschule, später gelang ihm eine Ausbildung als Meisterschüler bei Cirillo Dell’Antonio an der Holzschnitzschule in Bad Warmbrunn [Abb. 36].

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