Leseprobe

Von Liebe und Krieg Tamilische Geschichte(n) aus Indien und der Welt

S A N D S T E I N V E R L A G Herausgegeben von M. D. Muthukumaraswamy, Georg Noack, Inés de Castro und Lisa Priester-Lasch Tamilische Geschichte(n) aus Indien und der Welt Von Liebe und Krieg

Inhalt ெபாருளடக்கம் 6 I NÉ S D E C A S T RO Vorwort Einleitung அறிமுகம் 10 M. D. MUT HUKUMA R A SWAMY GEORG NOAC K L I S A P R I E S T E R - L A S CH Von Liebe und Krieg: Tamilische Geschichte(n) aus Indien und der Welt 22 F R É D É R I C L ANDY Tamil Nadu, eine Landschaft der Gegensätze Soziale Bewegungen சமூக இயக்கங்கள் 32 A RCHANA V ENK AT E S AN Tamilische Bhakti: Lieder der Liebe und Sehnsucht 42 T HOMA S L E HMANN Die Tamil-Renaissance 50 T H EODOR E BA S K A R AN Tamilische Gesichter des indischen Unabhängigkeitskampfes 58 U L R I K E N I K L A S Periyar und die Dravidische Bewegung 66 D ENE T H P I UMA K S H I V E DA A R ACHCH I GE ANTON Y T HA S AN J E S UT HA S AN A L I A S S HOBA S A K T H I Krieg und Frieden – Perspektiven zweier Künstler auf den Krieg in Sri Lanka und die Migration ins Ausland

Alltag அன்றாட வாழ்க்ைக 78 H É L ÈNE GUÉ TAT - B E RNA RD F L EUR S OUME R Tamilische Küche 88 L I S A P R I E S T E R - L A S CH »Du bist, was du trägst«: Kleidung und Textilien in Tamil Nadu 98 GA B R I E L E A L E X · J U S TU S WE I S S Gesundheit und Heilung in Tamil Nadu Kunst und populäre Kultur பிரபலமான கலாச்சாரமும் ைகலகளும் 110 CH I T R AV I NA N . R AV I K I R AN Tamilische Musik und karnatische Musik im Laufe der Jahrhunderte. Ein kurzer Überblick 118 C A RO L I NE J OHANNE L I L L E LUND Klänge von Tod und Gefahr: Die beunruhigende Paṟai-Trommel 126 M. D. MUT HUKUMA R A SWAMY Tamilisches Volkstheater 134 R A J AN KUR A I K R I S HNAN Die Filmleinwand als kultureller Baldachin 144 ZOÉ E . H EAD L E Y Tamilische Studiofotografie 154 A S HR A F I S . BHAGAT Madras Art Movement: Regionale Moderne von 1960 bis 2000 Religiöse Vielfalt மத ேவறுபாடு 166 C R I S P I N B R AN FOOT Buddhismus und Jainismus in der tamilischen Kulturgeschichte 176 V I DYA D E H E J I A Die Kunst der Cōḻa 186 UT E HÜ S K EN Navarāttiri: Die neun Nächte der Göttin 196 KOMBA I S . ANWA R TOR S T EN T S CHACH E R Tamilische Muslim*innen: Kinder der Gewürzroute 206 ANAND AMA L ADA S S Tamilische Christen Katalog கண்காட்சித் ெதாகுப்பு Anhang பின்னிைணப்பு 278 Glossar 282 Bibliografie 285 Autor*innen 288 Impressum

10 M . D . MU T H U KUMA R A SWAMY G E O R G NOA C K L I S A P R I E S T E R - L A S C H Von Liebe und Krieg: Tamilische Geschichte(n) aus Indien und der Welt காதலும் ேபாரும்: தமிழ் வரலாறுகள்

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12 Einleitung Von Liebe und Krieg Tamil*innen im Süden des indischen Subkontinents, auf Sri Lanka wie auch in Diasporagemeinschaften und vielfältigen sozialen und kulturellen Kontexten rund um die Welt sind auf vielerlei Weise miteinander verbunden, insbesondere durch eine gemeinsame Sprache – Tamil – und durch miteinander geteilte Erzählungen. Diese Geschichten, von denen einige in diesem Buch vorgestellt werden, haben gesellschaftliche Vorstellungen einer über dreitausend Jahre zurückreichenden tamilischen Sprache und Kultur verewigt. Der Verlust und die Wiederentdeckung antiker literarischer Texte in Tamil, bekannt als Caṅkam-Literatur, spielten eine zentrale Rolle beim Entstehen dieser Vorstellungen und bestimmten vielerorts die politischen Entwicklungen.1 Die Caṅkam-Literatur, ihre zentralen Themen und ihre oft oral weitergegebene Poetik, förderte die Selbstwahrnehmung vieler Tamil*innen, formte ihre Identitäten und half dabei, das Erbe der verschiedenen Perioden ihrer Geschichte zu verstehen. Dieses Buch trägt den Titel »Von Liebe und Krieg« als eine Referenz an die zwei wichtigsten Genres der Caṅkam-Literatur und versucht, tamilische Geschichte(n) auf nichtlineare, vielstimmige Weise aus vielfältigen Perspektiven zu erzählen. Tiṇai: Die inneren Landschaften der Poesie Im legendären Caṅkam-Zeitalter teilte das antike Werk Tolkāppiyam die Künste in drei Kategorien ein: Iyal (Literatur), Isai (Musik) und Nāṭakam (Tanz und Theater). Die Themen der Künste wurden mit dem Begriff Tiṇai bezeichnet. Eine Tiṇai bildet eine ganze poetische Landschaft – bestehend aus Tageszeiten, Orten, Jahreszeiten, Blumen, Menschen, Gottheiten und Gesellschaftsformen. Von solchen Landschaften gibt es fünf: Kuruṇchi (Berglandschaft – assoziiert mit geheimer, vorehelicher Liebe), Mullai (Wälder und Weideland – Warten auf den Geliebten), Marutam (Felder und Ackerland – Streitigkeiten und Versöhnung der Liebenden), Neytal (Küsten – klagende Sehnsucht nach dem Geliebten in einer unerträglichen Situation langfristiger Trennung) und Pālai (Wüsten oder Ödland – Gefahr und Abenteuer des männlichen Helden). Weiter wird in zwei Varianten der Tiṇai unterschieden: akam Tiṇai (Tiṇai im »inneren Modus«) und puṛam Tiṇai (Tiṇai im »äußeren Modus«). Dabei kommen die fünf Tiṇai im inneren Modus in Gedichten über die Liebe zur Anwendung, während die entsprechenden Tiṇai im äußeren Í 2 Kuruṇchi-Landschaft in den Kurangani Hills, Tamil Nadu. Foto: Prem Kumar, Chennai. Í 1  Tiruvaḷḷuvar: Philosophischer Dichter der Caṅkam-Zeit und tamilische Kulturikone heute. Skulptur des Künstlers »Chandru« (G. Chandrasekaran, Tirunelveli, 2019). Foto: Dominik Drasdow, Linden-Museum Stuttgart. √

Modus in philosophischen und moralisierenden Gedichten über Heldentum und Krieg auftreten. Die TiṇaiEinteilung liefert kritische Werkzeuge zum Verständnis tamilischer Literatur, Musik und darstellender Kunst auf allen Ebenen der Kultur – traditionelle Folklore, klassische Elitekünste, zeitgenössische Populärkultur, kommerzielle und experimentelle Kunst. Fragte man, ob die Trennung von Liebenden nicht beispielsweise auch in einer Berglandschaft stattfinden kann, würde das Tolkāppiyam antworten, dass jedes menschliche Drama sich natürlich in jeder physischen Landschaft abspielen kann, dass aber die poetische Landschaft (Tiṇai) eines Gedichtes allein von dessen emotionalem Inhalt abhängt. Dies macht die Tiṇai zu inneren Emotionslandschaften, die auf äußere, physische Landschaften Bezug nehmen. Das System ist von großer Komplexität und verbindet zahlreiche Unterkategorien und wechselseitige Bezüge der Gegensätze akam (innerlich, befasst mit Liebe) und puṛam (äußerlich, befasst mit Krieg). Diese antike tamilische Poetik und ihre Sicht auf das Wissen über die Welt waren für die tamilische Gesellschaft jedoch bis zur Wiederentdeckung der Caṅkam-Literatur im 19. Jahrhundert nicht leicht zugänglich. Die Wiederentdeckung der antiken TamilLiteratur und ihre Auswirkungen Die unablässigen Bemühungen von U.V. Swaminatha Iyer (1855–1942), alte Texte klassischer Tamil-Literatur über einen Zeitraum von fünf Jahrzehnten zu suchen, zu sammeln, herauszugeben und zu veröffentlichen, führten zur Wiederentdeckung der Caṅkam-Literatur. U.V. Swaminatha Iyer veröffentlichte über 90 Bücher und sammelte fast 3000 Manuskripte im Laufe seines Lebens. Seine Arbeit, gemeinsam mit der Arbeit von C.W. Damodaram Pillai (1832–1901) motivierte zahlreiche weitere tamilische Gelehrte, frühe literarische Werke in Tamil zu suchen, zu sammeln und erstmals gedruckt herauszugeben. Der so entstandene Korpus der wiederentdeckten Texte führte zu Diskursen über die Einzigartigkeit tamilischer Kultur und die Bedeutung des literarischen Erbes in tamilischer Sprache – eine Bewegung, die als »Tamil-Renaissance« bekannt wurde. Die Poetik der Caṅkam-Literatur und ihre Klassifikationen als aham (innerlich) und puṛam (äußerlich) in binärer, sich wechselseitig formender Beziehung, erwachten mit U.V. Swaminatha Iyers Veröffentlichungen Í 3  Marutam-Landschaft bei Theni, Tamil Nadu. Foto: Seekan Paul, Villupuram, Tamil Nadu. 13

14 Einleitung Von Liebe und Krieg Puṛanānūṛu (1894) – puṛam-Dichtung, die die Ethik des Krieges und der Tapferkeit zelebriert, und Ainkuṛunūṛu (1903) – akam-Dichtung, die die Nuancen der Liebe beschreibt, zu neuem Leben. Die Wortführer der aufkommenden Dravidischen Bewegung2 ließen in ihren Reden schnell die im Puṛanānūṛu beschriebene Tapferkeit tamilischer Männer und Frauen (vor allem der Mütter) einfließen. Dichter*innen und Wissenschaftler*innen entdeckten den Reichtum der Liebeslyrik des Ainkuṛunūṛu. Über die Zugänglichkeit des tamilischen literarischen Erbes für nachfolgende Generationen hinaus lieferten U.V. Swaminatha Iyers Veröffentlichungen der Caṅkam-Literatur und der klassischen Tamil-Epen die Kernkonzepte, die tamilische Identitäten heute zumeist ausmachen. Ein weiterer wichtiger Meilenstein tamilischer Geschichte(n) war die Veröffentlichung des Buches A Comparative Grammar of the Dravidian or South Indian Family of Languages von Robert Caldwell im Jahr 1856. Caldwell zeigte darin, dass die südindischen Sprachen eine eigenständige Sprachfamilie bildeten, verschieden von den indoarischen Sprachen, zu denen die meisten nordindischen Sprachen einschließlich des Hindi zählen. Während Sanskrit den Prototyp der indoarischen Sprachen bildete, bewies Caldwell, dass Tamil die Urform der südindischen Sprachen wie Telugu, Malayalam, Kannada und Tulu war. Obwohl das Wort »Dravida« als Bezeichnung für den Süden des indischen Subkontinentes bereits in zahlreichen alten Texten vorkam, war es Caldwell, der die Sprachfamilie als »dravidische Sprachen« bezeichnete. Dies wiederum nährte die Vorstellungen subnationalistischer politischer Bestrebungen, nachdem Indien unabhängig geworden war. Der politische Diskurs war stark geprägt vom Dualismus zwischen Nordindien und Südindien und dem Aufzwingen von Hindi als Verkehrssprache gegenüber dem Versuch, das Tamil zu bewahren, was zugleich den Aufstieg der Dravidischen Bewegung vorantrieb. Hierzu lieferte Caldwells Buch die theoretische Grundlage. Nach der Wiederentdeckung der Caṅkam-Literatur und dem Aufstieg der Dravidischen Bewegung zur Macht wurde 2004 ein weiterer Höhepunkt erreicht, als Tamil als erste Sprache in Indien offiziell – noch vor Sanskrit – den gesetzlichen Status einer »klassischen Sprache« erhielt. Dabei erfüllte die Sprache drei Kriterien: einen nachweisbar frühen Ursprung, eine eigenständige Überlieferung und einen umfangreichen Korpus alter Literatur. Í 4  Marutam-Landschaft bei Madurai, Tamil Nadu. Foto: Prashanth Swaminathan, Chennai.

15 Wiederentdeckung, Wieder- belebung, Nacherzählung und Innovation in den Künsten Im historischen Verlauf der Wiederentdeckung der Caṅkam-Literatur während der Tamil-Renaissance, die zum Aufstieg und schließlich zur Herrschaft der Dravidischen Parteien in Tamil Nadu führte, gibt es eine Überschneidung mit der Zeit des indischen Unabhängigkeitskampfes, der 1947 zur Erlangung der Unabhängigkeit führte. Für die Wiederentdeckung und Wiederbelebung der Künste spielte auch dieser nationale Aufbruch eine entscheidende Rolle. Im Rahmen der aufsteigenden indischen Unabhängigkeitsbewegung suchte Rukmini Devi Arundale (1904–1986) nach traditionellen Tanzformen Indiens und widmete ihr Leben deren Wiederbelebung. Als Tänzerin und Choreografin belebte sie Satir, den traditionellen Tanz tamilischer Tempeldienerinnen (Devadasis) und etablierte ihn als klassischen indischen Tanz Bharata Nāṭyam. U.V. Swaminatha Iyers Veröffentlichung des alttamilischen Epos Cilappatikāram, das detaillierte Schilderungen früher Musik enthält, löste eine Bewegung zur Rekonstruktion von Tamil Isai als »ursprünglich-tamilischer« Musik aus. Gleichzeitig entwickelte sich die klassische karnatische Musik aus der alten Paṇisai und wurde für anspruchsvolle Konzerte und Festivals auf den Bühnen von Madras (heute Chennai) angepasst. Auf der Suche nach Ausdrucksformen indischer Identität in ihrer Kunst begannen südindische Künstler*innen ihre Suche nach einem authentischen modernen Ausdruck, der im kulturellen Erbe der Region verwurzelt sein sollte. Das Madras Art Movement eröffnete künstlerische Dialoge und Verhandlungen zwischen regionalen bildenden Künsten und Formen der westlichen Moderne. Das tamilische Kino hingegen ging von Nacherzählungen der mündlich überlieferten Geschichten, Legenden und Mythologien dazu über, Erzählungen des antikolonialen Kampfes der indischen Unabhängigkeitsbewegung darzustellen und die von der Dravidischen Bewegung geforderten sozialen Reformen politisch zu propagieren. Í 5  Mullai-Landschaft bei Kolukkumalai, Tamil Nadu. Foto: Siva Prasad B., Vembanoor, Kanyakumari, Tamil Nadu.

Soziale Bewegungen Tamil Nadu, eine Landschaft der Gegensätze A R C H A N A V E N K AT E S A N 32 Tamilische Bhakti: Lieder der Liebe und Sehnsucht தமிழ் பக்தி: காதலும் காதல் ஏக்கப்பாடல்களும்

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34 Soziale Bewegungen Tamilische Bhakti: Lieder der Liebe und Sehnsucht Ab der Mitte des sechsten Jahrhunderts entwickelte sich im tamilischsprachigen Südindien eine bedeutende religiöse und literarische Wende, die rückblickend als Bhakti-Bewegung1 bezeichnet wird. In den Händen einiger außergewöhnlicher Dichter*innen wurde Bhakti zu einer intimen, ekstatischen Erfahrung des erkennbaren und beschreibbaren Göttlichen, das in lokalen Schreinen verehrt wurde. So ging es in der tamilischen Bhakti ebenso sehr darum, Gott erfahrbar zu machen, wie es darum ging, sich in seinen Orten, die sich über die tamilische Landschaft ausbreiteten, zu entfalten und diese zu feiern. Die Dichter*innen übernahmen in kreativer Weise die Caṅkam-Dichtung von akam (privat) und puṟam (öffentlich), um einen Gott zu beschreiben, der König und Liebhaber, transzendent und immanent und in seinem Sein gleichzeitig gegenwärtig und abwesend ist. Die Stärke der Bhakti-Dichtung wurzelt in den kraftvollen Fähigkeiten der Dichter*innen, direkte Erfahrungen mit dem Göttlichen zu beschreiben und andere Anhänger*innen in diese Erfahrung mit hinein zu nehmen. Die Āḻvār und die Nāyaṉmār Die Gründungsperiode der tamilischen Bhakti (6. bis 9. Jahrhundert n.Chr.) wurde von śivaitischen und viṣṇuitischen Dichter*innen bestimmt, die das Land bereisten und Lobpreisungen Śivas und Viṣṇus sangen. Die Śivait*innen bezeichnen ihre Gründerfiguren als die Nāyaṉmār (Führer), während die Viṣṇuit*innen sie Āḻvār (die Versunkenen) nennen. Die tamilischen Śivait*innen erwähnen 63 Nāyaṉmār, aber nicht alle von ihnen waren Dichter*innen oder überhaupt historische Persönlichkeiten. Die bedeutendsten unter ihnen sind Appar, Campantar und Cuntarar, die als die Begründer des tamilischen Śivaismus gelten. Ein sehr prominenter śivaitischer Dichter, Māṇikkavācakar (spätes 9. Jahrhundert), ist in dieser Liste der 63 Nāyaṉmār nicht enthalten. Die Gedichte der śivaitischen Bhakti-Dichter*innen sind in einem zwölfbändigen Werk, dem Tirumuṟai (»heiliges Werk«), zusammengetragen. Darin werden die Gedichte von Appar, Campantar und Cuntarar gemeinsam als Tēvāram bezeichnet und umfassen die ersten sieben Bücher des Tirumuṟai. Māṇikkavācakars zwei lange Kompositionen – Tiruvācakam und Tirukkōvaiyār – bilden das achte Buch. Die Śivait*innen zählen eine Frau, Kāraikkālammaiyār, zu ihren 63 Nāyaṉmār; ihre vier Gedichte sind im elften Buch des Tirumuṟai enthalten. Die tamilischen Viṣṇuit*innen verehren zwölf Dichter*innen, die Āḻvār genannt werden. Ihre Gedichte sind in einem vierbändigen Text Nālāyira Divya Prabandham (»Göttliche Sammlung der Viertausend«) zusammengestellt. Die frühesten Āḻvār sind die abstrakt benannten Poykai (See), Pēy (Geist), Pūtam (Dämon) und Tiruma icai, der nach seiner Heimatstadt benannt wurde. Der wichtigste der Āḻvār-Dichter ist Śaṭhakōpaṉ, der als Nammā vār (»unser Āḻvār«) bekannt wurde. Er hat mehr als ein Viertel der Verse zum Divya Prabandham beigesteuert, darunter seine gewaltige Tiruvāymoḻi (»heilige Rede«), die die tamilischen Viṣṇuit*innen als den tamilischen Veda2 preisen. Die Dichterin Kōtai, im Volksmund bekannt unter ihrem Beinamen Āṇṭāḷ (»sie, die herrscht«), ist die einzige weibliche Āḻvār. Die śivaitischen drei: Appar, Campantar und Cuntarar Appar (eigentlich: Tirunāvukkaracar), Campantar (eigentlich: Tiruñāṉacampantar) und Cuntarar lebten zwischen dem sechsten und achten Jahrhundert und werden zusammen als die Mūvar (»die Drei«) bezeichnet. Während Appar und Campantar annähernd Zeitgenossen waren, sind es bei Cuntarar fast zwei Jahrhunderte, die ihn von den anderen trennen. Alle drei Dichter sind eng mit bedeutenden Königshäusern verbunden – Appar mit einem Pallava-König, Campantar mit einem Pāṇṭiya-König und Cuntarar mit einem CēraKönig –, was auf die Bedeutung der königlichen Schirmherrschaft bei der Etablierung des Śivaismus im Land verweist, das zu dieser Zeit von jainistischen und buddhistischen Gemeinschaften dominiert war. Appar und Campantar, als frühe Pioniere des tamilischen Śivaismus, polemisieren in ihren Gedichten gegen konkurrierende Religionsgemeinschaften. Zum Beispiel spricht Appar in seinen Gedichten oft davon, es zu bereuen, ein Jain gewesen zu sein, bevor er von seiner Schwester zum Śivaismus bekehrt wurde, während Campantar in jedem Liederzyklus mindestens eine Strophe dafür reserviert, die Buddhisten und Jains zu verurteilen. Zum Beispiel singt Campantar in III.297.4: √ Í 1  Māṇikkavācakar. Prozessionsstatue aus der Zeit der Cōḻa-Dynastie, ca. 10.–12. Jahrhundert. Bronze, Höhe: 54 cm, Linden-Museum Stuttgart, Inv.-Nr. SA 33908 L. Foto: Dominik Drasdow.

35 Mit Araṉ von Ālavāy an meiner Seite, werde ich leicht besiegen jene blinden Narren mit Namen wie Candusena, Indusena, Dharmasena, den dunklen Kandusena und den Kanakasena, die wie Affen umherstreifen und weder gutes Tamil noch die Sanskrit-Sprache kennen. (Peterson 1991: 278) Der Vers veranschaulicht viele der Themen, die die śivaitische Bhakti-Poesie beleben: die Schaffung von festen Orten der Intimität zwischen Gott und den ihn Verehrenden und die harsche Polemik gegen die mächtigen buddhistischen und jainistischen Religionsgemeinschaften, die als unzivilisiert, ungebildet und verblendet abgelehnt werden. Für den Dichter ist Śiva, der im Tempel von Ālavāy immanent ist, keine ferne, transzendente Gottheit, sondern ein Gefährte, der den Dichter befähigt, seine Gegner zu besiegen und so die Überlegenheit des śivaitischen Pfades zu belegen. Während Campantar seine vernichtende Kritik nach außen richtet, ist Appar eher selbstironisch und beklagt seine Vergangenheit als Jain-Mönch. Zum Beispiel sagt er in IV.39.1: O Gott, der den Irrglauben durchstochen hat der mich befiel als ich mich den Jains anschloss und ein übler Mönch wurde! Oh helle Flamme, himmlisches Wesen der du als der reine Pfad dastehst, Stier unter den Unsterblichen, Honig, der in Tiruvaiyāṟu residiert! Ich wandere als dein Diener, deine Füße verehrend und besingend. (Peterson 1991: 286) Hier durchbricht die namenlose, transzendente Gottheit den Irrglauben des Dichters und wird gleich am lokalen Schrein von Tiruvaiyāṟu nahbar und zugänglich. Der Dichter begnügt sich jedoch nicht damit, an einem Ort verwurzelt zu bleiben, sondern wandert den Lobpreis Śivas singend umher, so dass das Land der Tamil*innen, das er so gut kennt, zur Heimat Śivas wird. Appar ist nicht allein in seinem Wunsch, das Land der Tamil*innen zur Heimat Śivas zu machen. Die Mūvar sangen insgesamt 275 Orte zur Heiligkeit, von denen 269 heute südindische Tempel sind. Besonders verbunden war Cuntarar mit Śiva im Tempel von Tiruvārūr in der fruchtbaren Kaveri-Region, wo er der Legende nach dem Gott zusammen mit seiner ersten Frau Paravai diente. Als er jedoch Tiruvoṟṟiyūr weiter nördlich besuchte, verliebte er sich in eine andere Frau, die er ebenfalls heiratete. Allerdings geschah dies unter der Bedingung, dass er sie und diesen Tempel niemals verlassen dürfe. Bald darauf brach Cuntarar, getrieben von den Erinnerungen an Ārūr, sein Versprechen und versuchte, dorthin zurückzukehren. Auf dem Weg dorthin wurde er mit Blindheit geschlagen. Viele Gedichte von Cuntarar sprechen ergreifend von seinem Kummer, von seiner tiefen Verbundenheit mit dem Gott von Ārūr und dem Schmerz der Trennung von ihm. In Cuntarars Gedichten ist Śiva ein Freund, Genosse und Gefährte, mit dem er schimpft, den er anfleht und mit dem er verhandelt. In einem Zyklus von Versen prangert Cuntarar Śiva dafür an, dass er ihm das Augenlicht geraubt hat, indem er einen bekannten Segensspruch – Mögest du lange leben – sarkastisch als Refrain verwendet: Í 2  Campantar. Prozessionsstatue aus der Zeit der Cōḻa-Dynastie, ca. 10. –12. Jahrhundert. Bronze, Höhe: 43 cm, Linden-Museum Stuttgart, Inv.-Nr. SA 33588 L. Foto: Dominik Drasdow.

36 Soziale Bewegungen Tamilische Bhakti: Lieder der Liebe und Sehnsucht Du magst in Arur wohnen, zu dessen Hainen Aṉṟil-Vögel jeden Tag schwärmen! Was kümmert es dich, wenn dein Diener, der dir unermüdlich Loblieder singt, sich an dich klammert wie ein Kalb an das nährende Euter der Kuh, sein Augenlicht verliert, in die Berge läuft, in eine Grube fällt? Mögest du leben, lange leben, Herr! (Peterson 1991: 311) Zwei viṣṇuitische Dichter: Tirumaḻicai und Nammāḻvār Einer der frühen Āḻvār-Dichter ist Tiruma icai (ca. 7. Jahrhundert), der wahrscheinlich aus der gleichnamigen Stadt stammte, die heute ein Vorort von Chennai ist. Wir wissen nicht viel über sein Leben, obwohl die Legende erzählt, dass er durch Pēy Āḻvār in den Viṣṇuismus eingeführt wurde. Er verfasste zwei Gedichte, das Tiruccanta Viruttam (120 Verse) und das Nāṉmukaṉ Tiruvantānti (96 Verse), die beide im Nālāyira Divya Prabandham enthalten sind. Er ist berühmt für seine Weigerung, dem lokalen König von Kanchi durch seinen Gesang zu huldigen, was seine Verbannung zur Folge hatte. Sein Schicksal akzeptierend, bat er Viṣṇu im örtlichen Tempel, ihm in sein Exil zu folgen. Aus Liebe zu seinem Verehrer willigte Viṣṇu ein und erhielt damit den Titel Coṉṉa Vaṇṇam Ceyta Perumāḷ (der große Gott, der tat, was ihm gesagt wurde). Auch wenn sie historisch nicht belegbar sind, drücken solche Geschichten die symbiotische, sich gegenseitig aufrechterhaltende Beziehung zwischen Gott und Gottgeweihtem aus, die den Kern der tamilischen Bhakti-Erfahrung ausmacht. Í 3  Tiruma icai. Detail einer Skulptur des Künstlers Vidyashankar Sthapathi (*1938), ein Mitglied des Madras Art Movement. 1981, Kupferblech, Bronze- und Eisenteile. Höhe: 92,8 cm. Linden-Museum Stuttgart, Inv.-Nr. SA 07007. Foto: Dominik Drasdow. Í 4  Der Coṉṉa Vaṇṇam Ceyta Perumāḷ Tempel. Foto: Archana Venkatesan.

37 Wie den śivaitischen Mūvar geht es auch dem Nammā vār darum, Viṣṇu an lokalen heiligen Orten zu etablieren und dadurch den transzendenten höchsten Gott seinen Anhänger*innen zugänglich zu machen. Er singt von insgesamt 33 irdischen Stätten, die alle im Land der Tamil*innen gelegen sind. Zusätzlich zu diesen äußeren heiligen Stätten nimmt Nammā vār Viṣṇu auch in sein Herz auf und zieht damit eine Parallele zwischen dem Gott im Außen und dem Gott im Inneren: Wundersamer Nārāyaṇaṉ, Hari, Vāmaṉaṉ lebt in meinem Herzen und in Tirukkaṭittāṉam wo der Klang des Veda durch Haine von Kalpaka-Bäumen widerhallt. (Tiruvāymo i VIII.6.10) (Venkatesan 2020: 267) Im obigen Vers sehen wir, wie Nammā vār, in einem für viele Bhakti-Dichter*innen charakteristischen Zug, multiple Äquivalenzen aufstellt, um das Paradoxon eines Gottes aufzulösen, der sowohl fern als auch nah ist. Viṣṇu ist transzendent in seinen Aspekten Nārāyaṇa und Hari, immanent wie ein Avatāra (physische Manifestation Viṣṇus, hier: Vāmana) und doch ganz nah, da er im Herzen der Dichterin und im Tempel von Tirukkaṭittāṉam wohnt. Zwei Frauen: Karaikkālammaiyār und Kōtai-Āṇṭāḷ Die beiden Dichterinnen der śivaitischen und viṣṇuitischen Tradition sind durch etwa drei Jahrhunderte voneinander getrennt. Während Kāraikkālammaiyār (ca. Mitte des 6. Jahrhunderts) eine der frühesten Bhakti-Dichterinnen ist, verfasste Kōtai-Āṇṭāḷ (ca. Mitte des 9. Jahrhunderts) ihre Werke wahrscheinlich während einer späteren Phase des viṣṇutischen Bhakti. Wir wissen wenig über beide Frauen, doch was wir wissen, ist eingebettet in Legenden und Hagiografien. Beide Geschichten verweisen jedoch auf eine grundlegende und allgegenwärtige Spannung zwischen den Pflichten einer Frau gegenüber ihrer Familie und ihrem unablässigen Wunsch, Gott zu dienen. Í 5  Nammā var. Bronzefigur, ca. 14.–17. Jahrhundert, Höhe: 11 cm. Privatleihgabe. Foto: Dominik Drasdow. Obwohl Nammāḻvar einer der späteren Dichter der tamilischen viṣṇuitischen Tradition ist, war er der bei weitem einflussreichste Āḻvār. Seine vier Kompositionen, vor allem das 1102-versige Tiruvāymoḻi, werden von den tamilischen Viṣṇuit*innen als der tamilische Veda verehrt; das Tiruvāymoḻi wird mindestens seit dem 11. Jahrhundert fast ununterbrochen kommentiert. Über den Dichter Śaṭhakopan wissen wir nicht viel, außer dass er aus dem tiefen Süden, aus der Region um den Fluss Tamiraparani, stammte. Aus dem Titel Māṟaṉ, den er in seinen Gedichten verwendet, können wir schließen, dass er in irgendeiner Weise mit den Pāṇṭiya-Königen verbunden war, die diese Region um die Mitte des 9. Jahrhunderts regierten. Trotz Śaṭhakōpaṉs Status als Gründungsfigur der tamilischen viṣṇuitischen Traditionen zeugt sein Titel »unser Āḻvār« (Nammā var) von der intimen Beziehung, mit der ihm innerhalb dieser Gemeinschaft begegnet wird.

78 H É L È N E GU É TAT - B E R N A R D · F L E U R S OUME R Tamilische Küche தமிழ் உணவு

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80 Alltag Tamilische Küche Essen ist ein wichtiger Teil der Kultur (Srinivas 2011). Dieser Artikel befasst sich mit Essen in Pondicherry und bietet einen Rahmen und Kontext für das Verständnis der in der Ausstellung gezeigten Objekte und Fotografien zur tamilischen Küche. Er beruht auf Interviews mit zwei Frauen aus dem Sita-Kulturzentrum in Pondicherry, die an der Entwicklung der Ausstellung zur tamilischen Küche beteiligt waren. Das Land der Tamil*innen zeichnet sich durch drei Landschaften aus: Küsten, Ebenen und Bergland. Sie verfügen über je eigene kulinarische Besonderheiten. Charakteristisch für die Küche der Küstenstadt Pondicherry sind Fischgerichte (für Nicht-Vegetarier), insbesondere Meen Kozhambu, ein Fischcurry mit Tamarinde und Tomaten, das typisch für die ganze CoromandelKüste ist. Die Vielfalt der Esskulturen wird auch durch ländliche oder städtische Kontexte, die verschiedenen Kastengemeinschaften, Religionen und natürlich auch die sozialen Schichten weiter differenziert. Die in Indien weit verbreitete Vorliebe für eine überwiegend vegetarische Ernährung ist eng mit der Kastenidentität und auch mit politischen Diskursen verbunden. Vorstellungen von Reinheit und Unreinheit sowie die spezifische Kategorisierung von Lebensmitteln, die sich aus den alten, klassischen Schriften des Hinduismus ableiten, dienen einerseits der sozialen Dominanz der oberen Kasten über die unteren Kasten und die sogenannten Unberührbaren und sind andererseits Mittel der spirituellen Selbstdisziplinierung. Obwohl jede Familie ihre eigenen Rezepte bewahrt, kochen die Menschen auch Gerichte mit verschiedenen Einflüssen: Pondicherry ist durch die Nähe zu der Stadt Auroville und den französischen Einfluss kosmopolitisch geprägt. Die tamilische Küche: Eine materielle Grammatik, eingeschrieben in ein kulturelles Modell Die Einteilung der Mahlzeiten beruht auf einer Grammatik der Mahlzeiten und Zutaten. Das Frühstück besteht aus einem oder mehreren Gerichten und einem heißen Getränk wie Tee oder Kaffee, zumeist mit Milch. Ein typisches Gericht sind Iṭli (Idli), kleine gedünstete Klöße. Dafür lässt man einen aus Reis und eingeweichten, gemahlenen Linsen hergestellten Teig über Nacht gären. Morgens wird er noch einmal gemischt und gesalzen, dann in kleinen Formen gedämpft. Iṭli werden mit der Linsen-Gemüsesoße Cāmpār (Sambar) und verschiedenen Chutneys gegessen, etwa Tomaten-, Kokosnuss- und Zwiebel-Chutneys mit Erdnüssen. Iṭli werden oft auch in kleinen Straßenküchen gekauft. Der Tag wird oft durch Teepausen unterbrochen, zu denen man Tee mit süßer Milch und Gewürzen wie Ingwer, Kardamom, Pfeffer und Nelken trinkt. Das Mittagessen kann zu Hause oder am Arbeitsplatz gegessen werden. Da oft keine Kantinen vorhanden sind, aus wirtschaftlichen Gründen und da viele Menschen lieber hausgemachte Speisen essen, kochen die Frauen bereits morgens das Mittagessen, das sich in stapelbaren Behältnissen leicht transportieren lässt. Es besteht oft aus weißem Reis mit einer Soße wie Kōḻampu (kozhambu) und weiteren Beilagen, wie etwa Pōriyal (Poriyal), einem Gemüsegericht. Frauen bevorzugen oft die Einfachheit des »Variety Rice«, der bereits gewürzt ist und daher ein eigenständiges Gericht darÍ 2  Fischmarkt. Foto: SITA-Kulturzentrum, Pondicherry. Í 1  Marktstand mit Gewürzen, Hülsenfrüchten, Reis und anderen Lebensmitteln in Pondicherry. Foto: SITA-Kulturzentrum, Pondicherry. √

81 stellt. Es gibt viele Sorten davon, zum Beispiel mit Tomate, Tamarinde, Curryblättern, Zitrone oder einfach mit Joghurt. Am späteren Nachmittag ist es Zeit für Tiffin, eine Art Snack oder Abendessen, je nach Konsistenz und Uhrzeit. Es besteht aus Tee oder Kaffee mit süßer Milch und, falls später noch ein Abendessen zu Hause eingeplant ist, aus einer Kombination von Iṭli und Tōcai (Dosai) – dünnen Pfannkuchen aus dem gleichen Teig wie die Iṭli – mit Cāmpār. Wenn unterwegs gerastet wird, werden an Straßenküchen frittierte Snacks wie Pajjikaḷ und Pakkōṭākkaḷ (Bajji, Pakodas – fritiertes Gemüse in einem Kichererbsenteig) angeboten. Die Stadt wird von kleinen, bunten Karren belebt, die als Straßenrestaurants dienen und nach Einbruch der Dunkelheit beleuchtet werden. Zum Abendessen schließlich kommen, je nach Laune und Zeit der Hausherrin, die Reste des Mittagessens auf den Tisch, alternativ Tōcai mit einer Sauce oder eine vollständige, neu gekochte Mahlzeit. Í 3 Thali: Alle Bestandteile einer Mahlzeit werden oft auf einem Edelstahltablett angerichtet. Foto: Olaf Krüger. Í 4  Essen zum Diwali Fest. Foto: SITA-Kulturzentrum, Pondicherry.

82 Alltag Tamilische Küche Der tägliche Rhythmus der Mahlzeiten wird oft durch die Feste unterbrochen, die alle Religionsgemeinschaften auf eigene Weise feiern. Jeder dieser glücksverheißenden Tage verlangt nach besonderen kulinarischen Komponenten. Die Rezepte dafür sind oft aufwändig und werden mit teuren Zutaten wie Ney (Butterschmalz) oder Trockenfrüchten zubereitet. Gleichzeitig ist Essen nicht nur eine kulinarische Komponente solcher Feste, sondern auch Teil von Ritualen, in denen es den Göttern geopfert wird, indem man es ihnen als Speise serviert (im Viṣṇuismus) oder sie damit übergießt (im Śivaismus). Essen tritt auch aus den Göttern als Gnadengabe (Tamil: Piracatam) hervor und kehrt so zu den Gläubigen zurück, die ihm reinigende, glückverheißende und gesundheitsfördernde Eigenschaften zuschreiben. Auch Familien, die keine Vegetarier sind, essen nicht täglich Fleisch oder Fisch. Eine Ausnahme sind Fischerfamilien, für die Fisch und Meeresfrüchte zum Alltag gehören, und muslimische Familien, bei denen auf tägliche Fleischmahlzeiten besonderer Wert gelegt wird. Für die meisten Menschen ist der Gruß mit der Frage verbunden, was man gegessen hat. Muslim*innen und Christ*innen erwähnen oft stolz, dass sie Fleisch gegessen haben, besonders, wenn sie einer ärmeren Familie angehören. Bei Hindu-Familien, die keine Vegetarier sind, gibt es Fleisch, auch aus Kostengründen, vor allem sonntags und, falls etwas übrigbleibt, auch noch am Montag. Der sonntägliche Fleischverzehr zeigt sich auch in der Stadt, wo es dann vor den Metzgereien lange Schlangen gibt. Der Verzehr von Blattgemüse, Kirāy, wird oft als Ersatz für Fleisch angesehen, kann aber, je nach sozialer Gruppe, auch durch Ei oder Trockenfisch ergänzt oder mit diesem zusammen zubereitet werden. Kirāy können angebaut oder wild sein, aus Gärten oder dem Gartenbau-Gürtel der Í 6 Gemüsemarkt. Foto: SITA-Kulturzentrum, Pondicherry. Í 5 Kirāy Blattgemüse: Arai, Siru, Murukatan, Manta, Kali, Moulei. Foto: SITA-Kulturzentrum, Pondicherry.

83 Stadt stammen. Für die Mittelschicht sind sie Gegenstand neuen Denkens über gesündere Ernährung, auch im Kontext der mit der Übertragung von Covid-19 verbundenen Ängste. Menschen aus der Unterschicht ignorieren sie jedoch vielleicht, da Kirāy zwar günstig sind, aber zu sehr mit Zeiten der Knappheit in Verbindung gebracht werden. Das Wissen über die Eigenschaften von Kirāy ist in der Bevölkerung ungleich verteilt: Männer kennen einige davon, weil sie oft diejenigen sind, die auf dem Markt einkaufen. Sie sind jedoch kaum mit den Zubereitungsmethoden vertraut. Das Wissen darüber wird von den Großmüttern an die Töchter und Enkelinnen weitergegeben – vorausgesetzt, diese sind interessiert. Das ist nicht immer der Fall, denn die jüngeren Generationen bevorzugen einen globalisierteren Ernährungsstil, der oft aus Fertiggerichten besteht und mit den großen Marken assoziiert wird, die als Symbol der Urbanität und Modernität erscheinen (Staples 2014). Der Akt des Essens als Beziehung zwischen Mensch und Umwelt, Körper und Seele Ohne dass der Mensch sich dessen unbedingt bewusst ist, antwortet der Akt des Essens auf dreierlei Bedürfnisse (Sujatha 2015): Zum einen geht es um das Wohlbefinden des Menschen und sein körperliches Bedürfnis nach Nahrung. Essen wird aber auch als Heilmittel betrachtet, und das Wissen um seine heilende Wirkung wird oft von Männern und Frauen geteilt. Es sind jedoch meist allein die Frauen, die über das Wissen um die richtige Zubereitung verfügen, denn bestimmte Kirāy verlieren ihre gesundheitsfördernden Eigenschaften oder werden sogar schädlich, wenn sie nicht richtig zubereitet werden. Es gibt Überschneidungen zwischen solchen Blättern, die als Kirāy gegessen werden, und solchen, die als Mulikai, Heilkräuter, Verwendung finden. Viele Einwohner von Pondicherry raten je nach Jahreszeit zu bestimmten Kombinationen von Lebensmitteln, die auf den diesen zugeschriebenen Qualitäten beruhen und auch im Zusammenhang mit Vorstellungen von Wärme und Kühle stehen, die sie im Körper hervorrufen. Konzepte von Krankheit sind sowohl im volkstümlichen als auch im Verständnis der Gelehrten eng mit der Ernährung verbunden (Sujatha 2015). Viele Gewürze werden sowohl aufgrund ihres Geschmacks verwendet als auch aufgrund ihrer oft vielfältigen heilenden Eigenschaften. Zum Beispiel werden Frauen nach der Geburt eines Kindes mit Pfeffer geÍ 7  Gemüse: Moringa, flache Bohnen, Schlangenhaargurke, Schwammkürbis, Flaschenkürbis, Chayote, Auberginen, Bitterkürbis, Rettich, Okra. Foto: SITA-Kulturzentrum, Pondicherry. Í 8  Gewürzpulver: Kurkuma, Kreuzkümmel, roter Chili, Koriander, Hähnchen-Masala, Fisch-Masala. Foto: SITA-Kulturzentrum, Pondicherry.

118 C A RO L I N E J OH A NN E L I L L E L UN D Klänge von Tod und Gefahr: Die beunruhigende Paṟai-Trommel மரண, அபாய ஒலிகள்: பதட்டமான பைற ேமளம்

120 Soziale Bewegungen Klänge von Tod und Gefahr: Die beunruhigende Parai-Trommel Kunst und populäre Kultur ›Thakata, thakata, thakata, thak‹. Der scharfe, treibende Klang der Trommeln durchdringt die Luft. Er verkündet einen Tod im Dorf. Ein alter Bauer ist gestorben. Vor dem Haus des Verstorbenen trommeln drei Männer und ein Junge energisch. Sie stehen sich gegenüber und bewegen sich in tanzähnlichen Bewegungen hin und her, wobei sie ihre flachen, kreisförmigen Trommeln zwischen linkem Arm und Brust eingeklemmt halten. Sie sind barfuß. Der Schweiß läuft ihnen von der Stirn. Der Klang ist ohrenbetäubend laut. Die Trommler halten inne, und die Erwachsenen gehen zur Seite, rauchen eine Zigarette und trinken ein paar Schlucke billigen Schnaps. Dann machen sie weiter. Im Haus wird der Leichnam des Toten gewaschen und für die Beerdigung vorbereitet, dann wird er auf eine mit Blumen und Bananenblättern geschmückte Bambusbahre gelegt. Wenn die reine Männerprozession zum Begräbnisplatz beginnt, gehen die Trommler voraus. Erst wenn die Leiche unter der Erde liegt, hören sie auf zu trommeln und beginnen, um ihre Bezahlung zu kämpfen. In der Gegend um Tharangambadi (Tranquebar) in der Nähe von Karaikal an der südindischen Ostküste ist die Praxis des Trommelns zu Bestattungen noch lebendig. Bei meinem ersten Besuch im Jahr 2007 wandten sich die Angehörigen eines Verstorbenen sofort an den Dorf-Vettiyan, der als Bestattungstrommler, Totengräber und Einäscherungshelfer für alle Hindus im Dorf und in den nahe gelegenen Weilern diente. Je nach individueller Vereinbarung versammelte der Vettiyan eine Gruppe von bis zu vier Trommlern aus der Gegend, darunter seinen Sohn und seinen Schwiegersohn, die für die letzte Rituale und den Trauerzug trommelten. Jeder im Dorf und seiner Umgebung wusste dann, dass es einen Todesfall gegeben hatte. Der Klang der Bestattungstrommeln dient dazu, die bösen Geister abzuwehren, von denen man glaubt, dass sie sich um den Leichnam des Verstorbenen scharen. Es ist ein bedeutungsschwerer Klang, der Tod und Gefahr signalisiert. In Tharangambadi ist die bei Beerdigungen gespielte Trommel allgemein als Thappu bekannt, während der Vettiyan selbst sie als Cahatai bezeichnen würde. In anderen Regionen Tamil Nadus wird die Trommel als Thappatām oder Paṟai bezeichnet. Der letztgenannte Name ist etymologisch mit dem Namen Í 1 Ein alter Vettiyan. Foto: Caroline Johanne Lillelund. √ Í 2  Trommler vor dem Haus eines verstorbenen Bauern. Foto: Caroline Johanne Lillelund.

121 der Paṟaiyar-Kaste verbunden, die die größte und sozial differenzierteste der ehemals »unberührbar« genannten Kasten in Tamil Nadu ist und deren kulturelle Identität eng mit der Trommel verbunden ist. Ausgewählte männliche Mitglieder der Paṟaiyar-Kaste sind seit Jahrhunderten verpflichtet, bei Bestattungen und Tempelfesten als Tōlil (Dienst) für die ranghöheren nicht-­ brahmanischen Hindukasten gegen Sach- und Geldentschädigung die Trommel zu spielen. Aufgrund ihrer engen Verbindung mit dem Tod und potenziell böswilligen Geistern gelten Bestattungstrommler als von Natur aus unheilvoll und verunreinigend, selbst für Mitglieder ihrer eigenen Kaste. Bestattungstrommler werden regelmäßig verbal und körperlich misshandelt, und die meisten von ihnen trinken während des Dienstes heftig. Dies war auch in Tharangambadi der Fall, wo der Vettiyan und seine Familie isoliert am Rande der Paṟaiyar-Siedlung hin zum offenen Gelände lebten. »Wir sind von allen Menschen im Dorf die Niedrigsten«, sagte er ohne Umschweife, als ich ihn nach der sozialen Stellung seiner Familie fragte. Obwohl der Klang von Trommeln früher Voraussetzung für Bestattungen in ganz Tamil Nadu war, ist er heute nur noch selten zu hören. Seit Ende der 1980er Jahre weigern sich Paṟaiyar-Trommler zunehmend, bei Bestattungen und Festivals für die höheren Kasten zu trommeln, um sich von Stigma und Diskriminierung zu befreien. Als die auf der feudalen Kastenzugehörigkeit basierende Arbeitsorganisation in ländlichen Gebieten der kapitalistischen Marktwirtschaft und den Lohnarbeitsverhältnissen wich, brachen die Patron-KlientelBeziehungen zwischen hochkastigen Grundbesitzern und niedrigkastigen landlosen Bauern und Handwerkern zusammen. Dementsprechend sind Mäzene höherer Kasten nicht mehr in der Lage, den Männern aus der Paṟaiyar-Kaste die ehemals erbliche Pflicht des Trommelns aufzuerlegen. Vielerorts spielt niemand mehr bei Bestattungen und Festivals die Trommel, und das Trommeln wird entweder von anderweitig angemieteten Paṟaiyar-Trommelorchestern oder gar nicht mehr ausgeübt. Diese Entwicklung hat sich auch in Tharangambadi vollzogen. Vor vierzig Jahren gab es im Dorf vier Paṟaiyar-Trommler, heute gibt es nur noch einen. Der verbliebene Trommler lernte das Trommeln schon als Kind und übernahm nach dem Tod seines Vaters, als er gerade neun Jahre alt war, den VettiyanDienst. Er hatte nie einen anderen Beruf erlernt und verfügte weder über die Kraft noch über die Ressourcen oder das soziale Netz, um das Trommeln für Mitglieder der lokal mächtigen Kaste der Pattinavar-Fischer ablehnen zu können. Bei Bestattungen in der Fischerkaste erhielt der Vettiyan nur eine minimale Bezahlung zusätzlich zu der täglichen Menge Fisch, auf die er das ganze Jahr über Anspruch hatte. Zwar stand es ihm frei, einen höheren Lohn auszuhandeln, wenn er für Angehörige anderer Kasten trommelte, er musste jedoch in der Regel einen Streit mit den Verwandten des Verstorbenen anfangen, um die vereinbarte Summe auch tatsächlich zu erhalten. Als ich den Vettiyan 2007 befragte, wünschte er sich sehr, dass sein zwölfjähriger Sohn nicht den Beruf des Bestattungstrommlers von ihm übernähme. Trotzdem nahm er seinen Sohn oft mit, wenn er bei Bestattungen spielte. Soziale Hierarchie von Trommeln und Menschen Die Bestattungstrommel (Paṟai) ist eine einfellige Rahmentrommel, die auf einer Seite mit straff gespanntem Kalbs- oder Ziegenleder bespannt ist, das mit Tamarindensamenpaste auf einen Holzrahmen geklebt und mit einer Schnur aus Leder oder Baumwolle gespannt wird. Paṟai-Trommeln messen normalerweise etwa vierzig Zentimeter im Durchmesser, aber es gibt große Unterschiede. Heute stellen die Trommler ihre Trommeln selbst her und versehen sie mit neuen Fellen, wenn die alten reißen oder abgenutzt sind, aber früher war die Herstellung von Paṟai-Trommeln möglicherweise eine eigenständige berufliche Tätigkeit (Clarke 1998). Zunehmend bevorzugen die Trommler jedoch fertige Trommeln mit Metallrahmen und Fellen aus synthetischen Materialien, weil sie haltbarer sind und nicht die Konnotationen von Schmutz und Unreinheit tragen, die mit Tierhaut verbunden sind. Die Paṟai wird entweder mit zwei Stöcken gespielt – einem dicken Holzstab und einem dünnen Bambusstab – wie in Tharangambadi (Lillelund 2009) und Endavur1 (Moffatt 1979) oder mit einem Stock und der Handfläche der linken Hand (Clarke 1998; Arun 2007). Paṟai-Trommeln werden oft zusammen mit der kleineren Satti-Kesseltrommel gespielt, die aus einem flachen Tontopf mit weiter Öffnung und einem Ziegenhautfell besteht und mit zwei dünnen Bambusstöcken gespielt wird.

122 Soziale Bewegungen Klänge von Tod und Gefahr: Die beunruhigende Parai-Trommel Kunst und populäre Kultur Í 3  Paṟai. Holz, Ziegenhaut, Baumwollschnur. Kattucherri, Tamil Nadu, 2007. Nationalmuseum von Dänemark, Kopenhagen, Inv.-Nr. D.6072 a–c. Foto: Roberto Fortuna. Í 4 Satti. Gebrannter Ton, Ziegenhaut, Baumwollschnur. Kattucherri, Tamil Nadu, 2007. Nationalmuseum von Dänemark, Kopenhagen, Inv.-Nr. D.6075 a–c. Foto: Roberto Fortuna. Í 5  Beziehen einer alten Trommel mit einem neuen Fell. Foto: Caroline Johanne Lillelund.

123 Früher scheinen Paṟai-Mēlam-Orchester mit typischerweise vier Paṟai-Trommlern und einem Satti-Trommler der Standard für Bestattungszeremonien in tamilischen Dörfern gewesen zu sein. Die Trommler spielen verschiedene Talams (Rhythmen) für verschiedene Anlässe und Zeiten bei der Ausführung des Rituals. Clarke (1998) beschreibt zwölf verschiedene Talams – sowohl glücksverheißende als auch unglücksverheißende –, während der Vettiyan in Tharangambadi 42 verschiedene Rhythmen aufzählte. Die Paṟai-Trommel ist eine aus einer Reihe verschiedener Trommeln, die von Paṟaiyar -Musikern zu religiösen und Unterhaltungszwecken gespielt werden. Die typischen Instrumente der Paṟaiyar-Volksorchester sind Holztrommeln, wie die zweifellige Urumi-Trommel, die auf der einen Seite mit einem geraden Stock gespielt und auf der anderen Seite mit einem gebogenen Stock gerieben wird, oder auch die Pampai-Doppeltrommel, die ebenfalls mit Stöcken gespielt wird. Andere Trommeln sind die kleine Ravanai und die Tavil, eine große zweifellige Fasstrommel. Diese Trommeln haben nicht die Kraft, böse Geister zu verjagen, und sind mit keiner der negativen Eigenschaften verbunden, die an der Paṟai-Trommel haften, so dass die Trommler von keinem Stigma der Verunreinigung betroffen sind. Die TavilTrommel ist ein wichtiges Instrument der klassischen Musiktradition und wird von allen Kasten als sehr glückverheißend angesehen. Lokale Statushierarchien umfassen daher sowohl Trommeln als auch Menschen. Volkstrommeln werden oft von der Nayanam, einem doppelrohrblättrigen Blasinstrument, begleitet. Im Gegensatz zur klassischen südindischen Musik, die von der Elite geschätzt wird, hat die Volksmusik der Paṟaiyars in der Wissenschaft wenig Beachtung gefunden. In der Gegend von Tharangambadi wurden die Urumi- und PampaiTrommeln nach und nach durch Tavil-Trommeln und Seitentrommeln europäischen Stils ersetzt, während die Nayanam typischerweise durch eine Klarinette ersetzt wird. Als ich das Dorf besuchte, spielte ein Volksorchester von sechs bis zwölf Musikern regelmäßig bei Festen, Hochzeiten niedriger Kasten und sogar bei Bestattungen zusammen mit dem Vettiyan. Im Gegensatz zu den Paṟai-Trommlern spielen sie jedoch nicht, weil sie eine kastenspezifische Pflicht geerbt haben. Í 6  Ein Volksorchester spielt für einen Trauerzug in Tharangambadi 2007. Foto: Caroline Johanne Lillelund.

166 C R I S P I N B R A N F OOT Buddhismus und Jainismus in der tamilischen Kulturgeschichte தமிழ் கலாச்சார வரலாற்றில் ெபளத்தமும் சமணமும்

168 Religiöse Vielfalt Buddhismus und Jainismus in der tamilischen Kulturgeschichte Í 1  Jain Tirtankara, Granit, Höhe: 107 cm. 13. –14. Jahrhundert, Südindien. Staatliche Museen zu Berlin, Museum für Asiatische Kunst, Inv.-Nr. I 5882. Foto: Iris Papadopoulos. √ In den letzten Jahren wurden viele kleine gelbe Schilder entlang der Straßen aufgestellt, die an den imposanten Felsen rund um die Stadt Madurai vorbeiführen. Diese leiten interessierte Besucher*innen durch die Felder und über lange, in den Fels geschlagene Treppenstufen zu einigen der ältesten archäologischen Stätten in Tamil Nadu – Höhlen, in denen vor über zweitausend Jahren Jain-Asket*innen lebten. Viele dieser natürlichen Höhlen und Felsspalten weisen Spuren menschlicher Bearbeitung auf, die zwischen dem zweiten Jahrhundert vor unserer Zeit und dem zweiten Jahrhundert nach unserer Zeit datiert werden: ein glatter Boden mit einer erhöhten Plattform, eine polierte Wand oder ein Überhang mit Reihen in den Felsen geschlagener Schriftzeichen, ein Relief eines stehenden oder sitzenden Jain-Lehrers (Tīrthaṅkara, »Furtmacher«). Die in Tamil-Brāhmī geschriebenen Inschriften in diesen Höhlen gehören zu den ältesten erhaltenen Texten in Í 2  Naturhöhle mit fünfzig in den Boden gehauenen Jain-›Betten‹. Kongar Puliyangulam in der Nähe von Madurai. Foto: Crispin Branfoot. Í 3  Tamil-Brāhmī-Inschrift, Kongar Puliyangulam bei Madurai, 1. Jahrhundert v. Chr. Foto: Crispin Branfoot.

der tamilischen Sprache. Darüber hinaus sind diese Jain-Höhlen eine Erinnerung daran, dass die religiöse Landschaft des tamilischen Landes, wie Südasiens überhaupt, schon immer eine Vielfalt von Glaubensrichtungen und religiösen Gemeinschaften aufwies – wobei einige Überzeugungen und Praktiken geteilt wurden, während andere miteinander in Konflikt standen. Jains und Buddhist*innen haben nicht nur Spuren ihrer früheren Gegenwart in der Landschaft hinterlassen, sondern auch bedeutende Beiträge zur tamilischen Literatur und zu den anderen Künsten geleistet. Jains und Buddhisten in der tamilischen Literaturgeschichte Im Jahr 1887 veröffentlichte U. V. Swaminatha Iyer (1855–1942) eine kritische Ausgabe des Cīvakacintāmaṇi, eines langen, erzählenden Gedichtes in Tamil aus dem zehnten Jahrhundert, das einem Jain-Dichter zugeschrieben wird und das Swaminatha Iyer trotz seiner Gelehrsamkeit und langjährigen wissenschaftlichen Ausbildung bis 1880 unbekannt gewesen war. Die Begegnung mit Gelehrten aus der kleinen JainGemeinschaft, die den Text immer noch lasen und verehrten und die er bei der Bearbeitung des Textes um Hilfe bat, führte ihn auf eine literarische Entdeckungsreise, die ihn den Rest seines Lebens beschäftigen sollte. Zusammen mit C. W. Damodaram Pillai (1832– 1901) entdeckte und veröffentlichte Swaminatha Iyer viele Werke der klassischen tamilischen Literatur wieder, darunter die Gedichte der Caṅkam-Anthologien, die früheste Grammatik, das Tolkāppiyam, und längere erzählende Gedichte wie das Cilappatikāram und das Maṇimēkalai (Cutler 2003: 272–275). Das Cilappatikāram (»Geschichte eines Fußkettchens«) ist ein langes, erzählendes Gedicht, das etwa im fünften bis sechsten Jahrhundert verfasst wurde und Ilankovatikal, einem Jain-Mönch, zugeschrieben wird. Es ist eine Geschichte von Liebe und Verlust, gewaltsamem Tod und Ungerechtigkeit, die zur Verwandlung der Heldin der Erzählung von einer hingebungsvollen Ehefrau zu einer wilden Göttin führt. Das Cilappatikāram spielt in den Reichen der Könige (Mūvēntar) der drei alten tamilischen Dynastien der Cōḻa, Cēra und Pāṇṭiya. Aus diesem Grund haben einige Befürworter*innen des modernen tamilischen Kulturnationalismus den Text als starkes Symbol der tamilischen Identität und Macht verstanden (Cutler 2003: 300). Das Maṇimēkalai stammt etwa aus der gleichen Zeit, entstand aber in einem buddhistischen Milieu. Es ist eine lange, raffinierte und schöne, poetische Erzählung über das junge Mädchen Maṇimēkalai, Tochter einer Kurtisane, die sich allmählich vom Leben der Sinneslust abwendet, um auf der Suche nach Befreiung Asketin zu werden. Die Publikation dieser Texte in gedruckter Form, die aus der »tamilischen Renaissance« zwischen den 1880er und 1920er Jahren hervorging, zeigte nicht nur die frühen Wurzeln der klassischen tamilischen Literatur und Kultur. Sie unterstrich auch die einflussreiche und dauerhafte Präsenz von Jains und Buddhist*innen in der gemeinsamen religiösen und literarischen Kultur des frühen Südindien – ein Beitrag, der durch die spätere Dominanz des Śivaismus und Viṣṇuismus übersehen, wenn nicht sogar aktiv verzerrt wurde. Im Tēvāram, einer Sammlung tamilischer śivaitischer Bhakti-Dichtung, verurteilten die Dichter-Heiligen Appar und Campantar sowohl die Jains als auch die Buddhisten für ihre Lehren und Praktiken. Jains wurden durchweg als verhasste »Andere« dargestellt, und die gegen sie gerichtete Polemik war ein wichtiges Element im Aufstieg des Śivaismus als dominante Religion der tamilischen Bevölkerung seit dem elften Jahrhundert (Peterson 1998: 163–164). Eine der populärsten Erzählungen über den Umgang der śivaitischen Gemeinschaft mit der Jain-Gemeinschaft ist der Konflikt zwischen Campantar und den Jains in Madurai, der Hauptstadt der Pāṇṭiya-Könige. In einer Reihe von wundersamen Wettkämpfen wird die Überlegenheit der Verehrung Śivas gegenüber den Lehren der Jains demonstriert: Der König wird durch heilige Asche und das Rezitieren eines Mantras von einer Krankheit geheilt; ein Manuskript von Campantars Hymne zum Lob Śivas taucht unberührt aus einem Feuer auf, während ein JainManuskript zu Asche verbrennt. Die Niederlage in diesem Wettkampf führte zur massenhaften Pfählung der Jains – einem Ereignis, das im Periyapurāṇam (einem Werk aus dem zwölften Jahrhundert) und in den lokalen Legenden und Festen von Madurai überliefert, gefeiert und gelegentlich auch von Künstlern dargestellt wurde. Obwohl es keine historischen Aufzeichnungen darüber gibt, führte es der tamilischen śivaitischen Gemeinschaft die Überlegenheit der Hingabe an Śiva vor Augen und begründete den Verlust der wirtschaftlichen oder politischen Macht der Jains in Madurai. 169

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