Leseprobe

34 Soziale Bewegungen Tamilische Bhakti: Lieder der Liebe und Sehnsucht Ab der Mitte des sechsten Jahrhunderts entwickelte sich im tamilischsprachigen Südindien eine bedeutende religiöse und literarische Wende, die rückblickend als Bhakti-Bewegung1 bezeichnet wird. In den Händen einiger außergewöhnlicher Dichter*innen wurde Bhakti zu einer intimen, ekstatischen Erfahrung des erkennbaren und beschreibbaren Göttlichen, das in lokalen Schreinen verehrt wurde. So ging es in der tamilischen Bhakti ebenso sehr darum, Gott erfahrbar zu machen, wie es darum ging, sich in seinen Orten, die sich über die tamilische Landschaft ausbreiteten, zu entfalten und diese zu feiern. Die Dichter*innen übernahmen in kreativer Weise die Caṅkam-Dichtung von akam (privat) und puṟam (öffentlich), um einen Gott zu beschreiben, der König und Liebhaber, transzendent und immanent und in seinem Sein gleichzeitig gegenwärtig und abwesend ist. Die Stärke der Bhakti-Dichtung wurzelt in den kraftvollen Fähigkeiten der Dichter*innen, direkte Erfahrungen mit dem Göttlichen zu beschreiben und andere Anhänger*innen in diese Erfahrung mit hinein zu nehmen. Die Āḻvār und die Nāyaṉmār Die Gründungsperiode der tamilischen Bhakti (6. bis 9. Jahrhundert n.Chr.) wurde von śivaitischen und viṣṇuitischen Dichter*innen bestimmt, die das Land bereisten und Lobpreisungen Śivas und Viṣṇus sangen. Die Śivait*innen bezeichnen ihre Gründerfiguren als die Nāyaṉmār (Führer), während die Viṣṇuit*innen sie Āḻvār (die Versunkenen) nennen. Die tamilischen Śivait*innen erwähnen 63 Nāyaṉmār, aber nicht alle von ihnen waren Dichter*innen oder überhaupt historische Persönlichkeiten. Die bedeutendsten unter ihnen sind Appar, Campantar und Cuntarar, die als die Begründer des tamilischen Śivaismus gelten. Ein sehr prominenter śivaitischer Dichter, Māṇikkavācakar (spätes 9. Jahrhundert), ist in dieser Liste der 63 Nāyaṉmār nicht enthalten. Die Gedichte der śivaitischen Bhakti-Dichter*innen sind in einem zwölfbändigen Werk, dem Tirumuṟai (»heiliges Werk«), zusammengetragen. Darin werden die Gedichte von Appar, Campantar und Cuntarar gemeinsam als Tēvāram bezeichnet und umfassen die ersten sieben Bücher des Tirumuṟai. Māṇikkavācakars zwei lange Kompositionen – Tiruvācakam und Tirukkōvaiyār – bilden das achte Buch. Die Śivait*innen zählen eine Frau, Kāraikkālammaiyār, zu ihren 63 Nāyaṉmār; ihre vier Gedichte sind im elften Buch des Tirumuṟai enthalten. Die tamilischen Viṣṇuit*innen verehren zwölf Dichter*innen, die Āḻvār genannt werden. Ihre Gedichte sind in einem vierbändigen Text Nālāyira Divya Prabandham (»Göttliche Sammlung der Viertausend«) zusammengestellt. Die frühesten Āḻvār sind die abstrakt benannten Poykai (See), Pēy (Geist), Pūtam (Dämon) und Tiruma icai, der nach seiner Heimatstadt benannt wurde. Der wichtigste der Āḻvār-Dichter ist Śaṭhakōpaṉ, der als Nammā vār (»unser Āḻvār«) bekannt wurde. Er hat mehr als ein Viertel der Verse zum Divya Prabandham beigesteuert, darunter seine gewaltige Tiruvāymoḻi (»heilige Rede«), die die tamilischen Viṣṇuit*innen als den tamilischen Veda2 preisen. Die Dichterin Kōtai, im Volksmund bekannt unter ihrem Beinamen Āṇṭāḷ (»sie, die herrscht«), ist die einzige weibliche Āḻvār. Die śivaitischen drei: Appar, Campantar und Cuntarar Appar (eigentlich: Tirunāvukkaracar), Campantar (eigentlich: Tiruñāṉacampantar) und Cuntarar lebten zwischen dem sechsten und achten Jahrhundert und werden zusammen als die Mūvar (»die Drei«) bezeichnet. Während Appar und Campantar annähernd Zeitgenossen waren, sind es bei Cuntarar fast zwei Jahrhunderte, die ihn von den anderen trennen. Alle drei Dichter sind eng mit bedeutenden Königshäusern verbunden – Appar mit einem Pallava-König, Campantar mit einem Pāṇṭiya-König und Cuntarar mit einem CēraKönig –, was auf die Bedeutung der königlichen Schirmherrschaft bei der Etablierung des Śivaismus im Land verweist, das zu dieser Zeit von jainistischen und buddhistischen Gemeinschaften dominiert war. Appar und Campantar, als frühe Pioniere des tamilischen Śivaismus, polemisieren in ihren Gedichten gegen konkurrierende Religionsgemeinschaften. Zum Beispiel spricht Appar in seinen Gedichten oft davon, es zu bereuen, ein Jain gewesen zu sein, bevor er von seiner Schwester zum Śivaismus bekehrt wurde, während Campantar in jedem Liederzyklus mindestens eine Strophe dafür reserviert, die Buddhisten und Jains zu verurteilen. Zum Beispiel singt Campantar in III.297.4: √ Í 1  Māṇikkavācakar. Prozessionsstatue aus der Zeit der Cōḻa-Dynastie, ca. 10.–12. Jahrhundert. Bronze, Höhe: 54 cm, Linden-Museum Stuttgart, Inv.-Nr. SA 33908 L. Foto: Dominik Drasdow.

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