Leseprobe

37 Wie den śivaitischen Mūvar geht es auch dem Nammā vār darum, Viṣṇu an lokalen heiligen Orten zu etablieren und dadurch den transzendenten höchsten Gott seinen Anhänger*innen zugänglich zu machen. Er singt von insgesamt 33 irdischen Stätten, die alle im Land der Tamil*innen gelegen sind. Zusätzlich zu diesen äußeren heiligen Stätten nimmt Nammā vār Viṣṇu auch in sein Herz auf und zieht damit eine Parallele zwischen dem Gott im Außen und dem Gott im Inneren: Wundersamer Nārāyaṇaṉ, Hari, Vāmaṉaṉ lebt in meinem Herzen und in Tirukkaṭittāṉam wo der Klang des Veda durch Haine von Kalpaka-Bäumen widerhallt. (Tiruvāymo i VIII.6.10) (Venkatesan 2020: 267) Im obigen Vers sehen wir, wie Nammā vār, in einem für viele Bhakti-Dichter*innen charakteristischen Zug, multiple Äquivalenzen aufstellt, um das Paradoxon eines Gottes aufzulösen, der sowohl fern als auch nah ist. Viṣṇu ist transzendent in seinen Aspekten Nārāyaṇa und Hari, immanent wie ein Avatāra (physische Manifestation Viṣṇus, hier: Vāmana) und doch ganz nah, da er im Herzen der Dichterin und im Tempel von Tirukkaṭittāṉam wohnt. Zwei Frauen: Karaikkālammaiyār und Kōtai-Āṇṭāḷ Die beiden Dichterinnen der śivaitischen und viṣṇuitischen Tradition sind durch etwa drei Jahrhunderte voneinander getrennt. Während Kāraikkālammaiyār (ca. Mitte des 6. Jahrhunderts) eine der frühesten Bhakti-Dichterinnen ist, verfasste Kōtai-Āṇṭāḷ (ca. Mitte des 9. Jahrhunderts) ihre Werke wahrscheinlich während einer späteren Phase des viṣṇutischen Bhakti. Wir wissen wenig über beide Frauen, doch was wir wissen, ist eingebettet in Legenden und Hagiografien. Beide Geschichten verweisen jedoch auf eine grundlegende und allgegenwärtige Spannung zwischen den Pflichten einer Frau gegenüber ihrer Familie und ihrem unablässigen Wunsch, Gott zu dienen. Í 5  Nammā var. Bronzefigur, ca. 14.–17. Jahrhundert, Höhe: 11 cm. Privatleihgabe. Foto: Dominik Drasdow. Obwohl Nammāḻvar einer der späteren Dichter der tamilischen viṣṇuitischen Tradition ist, war er der bei weitem einflussreichste Āḻvār. Seine vier Kompositionen, vor allem das 1102-versige Tiruvāymoḻi, werden von den tamilischen Viṣṇuit*innen als der tamilische Veda verehrt; das Tiruvāymoḻi wird mindestens seit dem 11. Jahrhundert fast ununterbrochen kommentiert. Über den Dichter Śaṭhakopan wissen wir nicht viel, außer dass er aus dem tiefen Süden, aus der Region um den Fluss Tamiraparani, stammte. Aus dem Titel Māṟaṉ, den er in seinen Gedichten verwendet, können wir schließen, dass er in irgendeiner Weise mit den Pāṇṭiya-Königen verbunden war, die diese Region um die Mitte des 9. Jahrhunderts regierten. Trotz Śaṭhakōpaṉs Status als Gründungsfigur der tamilischen viṣṇuitischen Traditionen zeugt sein Titel »unser Āḻvār« (Nammā var) von der intimen Beziehung, mit der ihm innerhalb dieser Gemeinschaft begegnet wird.

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