Leseprobe

220 Einleitung 1 2 Legenden erzählen, dass vor langer Zeit der weise Akattiyar (oder Agasthya) eine Grammatik der tamilischen Sprache verfasste und sie dadurch sprechbar machte und lebendig werden ließ. Er soll auch das erste Caṅkam gegründet haben, ein Gremium von Dichtern, die Meister der Sprache und höchste moralische Autorität der alten tamilischen Gesellschaft waren. Gedichte aus der mythischen Zeit der alten Caṅkams sind in Anthologien überliefert, deren Studium ein wichtiger Impuls für Vorstellungen darüber wurde, was es bedeutet, Tamil*in zu sein. Tiruvaḷḷuvar und Avvaiyār gehören zu den bekanntesten und beliebtesten Dichtern des Caṅkam-Zeitalters. Ihre Werke und die Liebe zur Sprache verbinden Tamil-Sprecher heute über Grenzen von Staaten, Kasten und Religionen hinweg. Tamilische Historiker sind stolz, Verbindungen zwischen archäologischen Funden und literarischen Überlieferungen aus der Caṅkam-Zeit aufzuzeigen. Inzwischen wurden überall auf der Welt Caṅkams gegründet, um die tamilische Sprache und Dichtung zu fördern. GEORG NOAC K Tamil – Eine Sprache gebiert eine Zivilisation der Poesie Í 1 Chandru: »Tiruvaḷḷuvar« Statue des Künstlers G. Chandrasekaran (»Chandru«), Tirunelveli, 2019 Pañcalōkam (Legierung aus fünf Metallen), 81×25×25 cm Linden-Museum Stuttgart, gestiftet von der Tamil Heritage Foundation Foto: Dominik Drasdow Über das Leben des Dichters Tiruvaḷḷuvar gibt es viele Legenden. Er soll in der mythischen Vergangenheit des Caṅkam-Zeitalters gelebt haben. Sein Werk, das Tirukkuṟaḷ, wird von modernen Philologen auf das 2. bis 6. Jahrhundert unserer Zeit datiert. Es beinhaltet tiefgründige Einsichten in die menschliche Natur. | GN Í 2 S. Murugesan: »Avvaiyār« Statue des Künstlers S. Murugesan, Chennai, 2016 Granit, 55×27×8 cm Linden-Museum Stuttgart, Inv.-Nr. SA 07151 L Foto: Dominik Drasdow Avvaiyār, auch Auvaiyār, wörtlich »ehrwürdige Frau«, war der Titel mehrerer Dichterinnen, die in der Legende zu einer Person verschmolzen. Aufgrund ihrer Leidenschaft für Tamil und die Dichtkunst wollte sie sich nicht verheiraten lassen, und so gewährte ihr der Gott Gaṇapati das Aussehen einer alten Frau. Könige schätzten ihre Weisheit und baten sie, an ihren Höfen zu bleiben, aber sie weigerte sich, sich binden zu lassen. Ihre moralische Prinzipientreue gab ihr den Mut, mit Königen auf Augenhöhe zu sprechen und sie zu korrigieren, wenn sie sich irrten. König Athiaman Neduman Anji von Dharmapuri, war besonders von Avvaiyār angetan. Als er eine seltene Beere bekam, die ein langes Leben bewirken sollte, schenkte er die Frucht Avvaiyār, weil er glaubte, dass sie für die Gesellschaft von größerem Nutzen sein würde. Manche führen Avvaiyārs fortgesetztes Wirken über die Jahrhunderte hinweg auf diese Beere zurück. Literaturwissenschaftler meinen allerdings, dass es mindestens drei Dichterinnen dieses Namens gab, die in unterschiedlichen Jahrhunderten wichtige Beiträge zur tamilischen Literatur leisteten. | GN

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