Leseprobe

12 Einleitung Von Liebe und Krieg Tamil*innen im Süden des indischen Subkontinents, auf Sri Lanka wie auch in Diasporagemeinschaften und vielfältigen sozialen und kulturellen Kontexten rund um die Welt sind auf vielerlei Weise miteinander verbunden, insbesondere durch eine gemeinsame Sprache – Tamil – und durch miteinander geteilte Erzählungen. Diese Geschichten, von denen einige in diesem Buch vorgestellt werden, haben gesellschaftliche Vorstellungen einer über dreitausend Jahre zurückreichenden tamilischen Sprache und Kultur verewigt. Der Verlust und die Wiederentdeckung antiker literarischer Texte in Tamil, bekannt als Caṅkam-Literatur, spielten eine zentrale Rolle beim Entstehen dieser Vorstellungen und bestimmten vielerorts die politischen Entwicklungen.1 Die Caṅkam-Literatur, ihre zentralen Themen und ihre oft oral weitergegebene Poetik, förderte die Selbstwahrnehmung vieler Tamil*innen, formte ihre Identitäten und half dabei, das Erbe der verschiedenen Perioden ihrer Geschichte zu verstehen. Dieses Buch trägt den Titel »Von Liebe und Krieg« als eine Referenz an die zwei wichtigsten Genres der Caṅkam-Literatur und versucht, tamilische Geschichte(n) auf nichtlineare, vielstimmige Weise aus vielfältigen Perspektiven zu erzählen. Tiṇai: Die inneren Landschaften der Poesie Im legendären Caṅkam-Zeitalter teilte das antike Werk Tolkāppiyam die Künste in drei Kategorien ein: Iyal (Literatur), Isai (Musik) und Nāṭakam (Tanz und Theater). Die Themen der Künste wurden mit dem Begriff Tiṇai bezeichnet. Eine Tiṇai bildet eine ganze poetische Landschaft – bestehend aus Tageszeiten, Orten, Jahreszeiten, Blumen, Menschen, Gottheiten und Gesellschaftsformen. Von solchen Landschaften gibt es fünf: Kuruṇchi (Berglandschaft – assoziiert mit geheimer, vorehelicher Liebe), Mullai (Wälder und Weideland – Warten auf den Geliebten), Marutam (Felder und Ackerland – Streitigkeiten und Versöhnung der Liebenden), Neytal (Küsten – klagende Sehnsucht nach dem Geliebten in einer unerträglichen Situation langfristiger Trennung) und Pālai (Wüsten oder Ödland – Gefahr und Abenteuer des männlichen Helden). Weiter wird in zwei Varianten der Tiṇai unterschieden: akam Tiṇai (Tiṇai im »inneren Modus«) und puṛam Tiṇai (Tiṇai im »äußeren Modus«). Dabei kommen die fünf Tiṇai im inneren Modus in Gedichten über die Liebe zur Anwendung, während die entsprechenden Tiṇai im äußeren Í 2 Kuruṇchi-Landschaft in den Kurangani Hills, Tamil Nadu. Foto: Prem Kumar, Chennai. Í 1  Tiruvaḷḷuvar: Philosophischer Dichter der Caṅkam-Zeit und tamilische Kulturikone heute. Skulptur des Künstlers »Chandru« (G. Chandrasekaran, Tirunelveli, 2019). Foto: Dominik Drasdow, Linden-Museum Stuttgart. √

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