Leseprobe

48 Herausbildung Hans W. Singer bereits 1908 be- schrieb: »Schon in Zeichnungen, bei denen sie mit der Linie statt mit der Fläche operiert, also in Fe- der- statt in Kreidezeichnungen, sehen wir den künstlerischen Willen die bloße Naturbeobachtung verdrängen. Sie wirken freier und in allen Richtun- gen geistvoller. Diesem Ziel zu aber schreitet ihre Auffassung überhaupt, wie neuerlich selbst die Kreidezeichnungen bezeugen. Auch mit dieser Technik gelingt es ihr allmählich immer mehr, die Natur zu vereinfachen, das Unwesentliche, Zufäl- lige des Tages zu ignorieren und einen großen Stil zu entwickeln, der sich von den Eingebungen ei- nes äußerlichen Realismus emanzipiert.«5 Käthe Kollwitz selbst hatte in der Vorbereitung zu ihrer Ausstellung 1917 das Erzählerische in ihren Arbei- ten als stete Gefahr erkannt und dessen Überwin- dung als beständige Aufgabe angesehen.6 Wieder ist es Max Lehrs, der den möglichen Ursprung ih- rer Entwicklung zur Formkonzentration benennt: »Es ist merkwürdig, wie sich Ihre graphischen An- schauungen unter dem Eindruck der plastischen Arbeit sozusagen monumentalisiert haben. Die Ruhe und Vereinfachung der Komposition im Ge- gensatz zu Ihren oft so stark bewegten älteren Blättern kommt ihnen sehr zu statt. Es ist als ob Sie einen neuen Stil gefunden hätten, neue Aus- druckmöglichkeiten […]«.7 Während der langjährigen Arbeit an dem Radier- zyklus »Bauernkrieg« (Knesebeck WV 99-102), zwi- schen 1899 und 1908, hatten sich der Formenspra- che der Künstlerin neue Elemente hinzugefügt, die eine Verdichtung der Darstellung und eine Heraus- lösung der Figuren aus ihrem Umfeld kennzeich- neten. Als erstes Werk dieser Entwicklung gilt die dramatische Darstellung der »Frau mit totem Kind« von 1903 (Knesebeck WV 81) (Abb. 2) mit ihrer skulptural aufgefassten Körperlichkeit. Ein Jahr später ging Kollwitz nach Paris, um sich für ihren langgehegten Wunsch, plastisch zu arbeiten, die technischen Grundlagen zu erarbeiten. In etli- chen ihrer Werke auf Papier ist ab diesem Zeit- punkt ein Wandel in der Auffassung der Körper- darstellung spürbar. Immer häufiger findet man nun Figuren oder Figurengruppen, bei denen die malerische Oberflächengestaltung zugunsten einer plastischen Formung in den Hintergrund tritt. Abb. 2 Käthe Kollwitz, Frau mit totem Kind, 1903, Radierung, 424×486 mm, Käthe-Kollwitz-Museum Berlin – Verein der Freunde des Käthe-Kollwitz-Museums Berlin (Inv.-Nr. KKMB 0175)

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