Leseprobe

49 In ihrem seit 1908 überlieferten Tagebuch finden sich wiederholt Eintragungen zu geplanten plasti- schen Werken, deren Ausführungen in der Rück- schau häufig nur schwer nachzuvollziehen sind. Bei manchen Bildideen lässt sich eine Umsetzung in einer anderen Gattung feststellen, in einigen Fällen gab es das Motiv gleich in zwei Ausführun- gen. Zu Beginn ihrer Auseinandersetzung mit der Plastik entwarf Käthe Kollwitz etliche Ideen, die nicht weiterverfolgt wurden. So notierte sie im September 1911: »Ich denke mir folgende Plastik wunderschön: eine schwangere Frau aus dem Stein gehauen. Nur bis zu den Knien herausgehauen […]. Das Unbewegliche, Gebundene, Benommene […] die ganze Aufmerksamkeit nach innen.«8 (Seeler WV 6) Von dieser Idee lässt sich keine künstleri- sche Ausführung in den unterschiedlichen Werk- komplexen feststellen. Die geplante »klagende Arbeiterfrau, tief sitzend, beide Arme klagend hochgehoben«9 (Seeler WV 7) wurde jedoch von Kollwitz modelliert und in Gips ausgeformt. Eine Fotografie dokumentiert diesen Zustand. Angelegt war dieses Motiv bereits in einer Zeichnung aus dem Jahr 1895 (Nagel/Timm WV 116). Hier tritt ein Motiv von groß geformten und be- tonten Händen deutlich in den Vordergrund, das Kollwitz immer wieder als Ausdrucksträger ver- wenden sollte. Für die Vermittlung gefühlsstarker Momente setzte sie die überproportionale Ausge- staltung der Hände bewusst ein. In den Bespre- chungen von Werken der Künstlerin blieb dieses Stilelement nicht unbemerkt. So heißt es in einem Artikel von 1917: »Man könnte ein Buch schreiben über die Hände im Werke der Künstlerin.«10 Be- reits 1909 hatte es in einer Kritik mit dem Pathos der Zeit geheißen: »Wie wunderbar beseelt sind beispielsweise die Hände bei allen Figuren. Tief seelisch erfasst hat Käthe Kollwitz die stumme und beredete Sprache der menschlichen fünf Finger. Sie falten sich krampfhaft in verzweifeltem Weh, sie drohen zusammengepresst, sie krallen sich in furchtbarer Todesangst, sie flehen inbrünstig um Rettung, sie streicheln in unsäglichem Schmerz die starren Glieder des toten Lieblings.«11 Keineswegs zitierte sich Kollwitz mit diesemMo- tiv über Jahrzehnte selbst, denn es gelang ihr, im- mer wieder neue Gesten zu erfinden und in Szene zu setzen, wie bei den »Trauernden Eltern«, die im Zusammenhang mit der Arbeit am Gefallenenmal für ihren jüngsten Sohn entstanden. Zunächst wurde das Motiv als Relief (Seeler WV 20) (Abb. 3) geplant, dann als Holzschnitt (Knesebeck WV 174) (Abb. 4) umgesetzt und schließlich als Rundplastik in Holz überlegt.12 Dominiert beim Relief noch die beide Eltern verbindende Geste der zart ineinan- dergelegten Hände, so steht bei der Grafik die sich abschließende Geste der Hand vor dem Gesicht des Vaters im Mittelpunkt. Kollwitz’ Vorstellung, vom Holzschnitt zur Holzplastik zu kommen, erwies sich letztlich als nicht realisierbar, sodass der Hochdruck »Trauernde Eltern« von 1922 die in die Fläche transportierte plastische Idee geblieben ist. Bei anderen Werken lässt sich dagegen die Kor- respondenz von zwei- und dreidimensionalem Werk sowie von Zeichnung zu Druckgrafik gut nachverfolgen, etwa bei dem Blatt »Mütter« (Kne- sebeck WV 137 II, 140, 176) aus dem »Kriegszyklus« (Knesebeck WV 173–176, 178, 179, 190). Wie schon während der Arbeit am »Weberzyklus« zu Beginn ihrer Karriere wechselte sie auch bei der Mappe zum Krieg zu einer anderen, in diesem Fall neuen Technik, dem Holzschnitt. Zunächst wurde das Blatt »Mütter« mit einer bildparallelen Anordnung von Frauen mit ihren Kindern konzipiert, zeichnerisch vorbereitet und 1918 ursprünglich als Radierung begonnen. Ein Jahr später wechselte Kollwitz mit dem Motiv zur Lithografie (Abb. 7) . In ihrer verzweifelten Stim- mung nach dem Tod ihres jüngeren Sohns Peter hinterfragte sie häufig ihr künstlerisches Vermö- gen, glaubte aber in der lithografierten Fassung Abb. 3 Käthe Kollwitz, Grabrelief Trauernde Eltern, 1917/18, Gips, Maße unbekannt, nicht erhalten (Inv.-Nr. KKMB 0175)

RkJQdWJsaXNoZXIy MTMyNjA1