Leseprobe
der zusammenstehenden Mütter, die sorgenvoll ihre Kinder umfassen, den richtigen Ausdruck ge- funden zu haben: »Nach langer Zeit zum ersten Mal wieder fühl ich, daß ich viel kann. Ich arbeite die ›Mütter‹ […]. Gestern den Versuch beschlossen, die Kriegsblätter in Steindruck umzuarbeiten. […] Und ich hab es gut machen können.«13 Bereits ein Jahr später befand sie diese Arbeiten als »fast alle nicht gut« und überlegte: »Soll ich wirklich […] einen ganz neuen Versuch machen und mit Holz- schnitt beginnen?«14 Für diese neue Technik ver- änderte Kollwitz die Komposition hin zu einer kreisförmigen Anordnung von Frauen, die ihre Kinder nunmehr in ihrer Mitte versammeln (Abb. 5) . Eng umschlungen und mit ängstlichen, nach außen gewendeten Blicken bleiben auch diese »Mütter« in einer abwartenden Haltung. Dies sollte sich erst in der plastischen Ausformung des Motivs ändern, die Kollwitz in den 1930er-Jahren umsetzte. Bereits 1922 hatte sie sich das Motiv als Rund- plastik vorstellen können,15 was auch dem verän- derten Bildaufbau entsprach, bei dem die zunächst gestaffelt stehenden Frauen zu einer in die Tiefe entwickelten Figurengruppe wurden. 1938 war die Plastik »Turm der Mütter« (Seeler WV 35) (Abb. 6) vollendet. Aus den als Halbfiguren angelegten Frauen des Holzschnitts wurden in der Plastik Ganzfiguren, die jetzt recht aktiv nach außen Ab- wehr signalisieren. Eine der Frauen steht frontal zum Betrachter und umfasst mit ihren ausgebrei- teten Armen die hinter ihr stehenden Mütter und Kinder. Fäuste werden erhoben und Arme schir- mend über die Kinder gebreitet. Der ängstlich- passive Eindruck ist bei dieser im Kreis stehenden Frauengruppe einer Tatkraft gewichen. In der spä- ten Lithografie »Saatfrüchte sollen nicht vermah- len werden« (Knesebeck WV 274) findet das in die Tiefe gehende Motiv mit der Frau, die unter ihren ausgebreiteten Armen Kinder versammelt, eine weitere Ausformung. Um 1920 beschäftigte sich Käthe Kollwitz neben dem »Kriegszyklus« intensiv mit dem »Gedenk- blatt für Karl Liebknecht« (Knesebeck WV 159) (Abb. 9) . Auch dieses Werk war zunächst als Litho- grafie angelegt worden und wurde dann, noch vor den Kriegsblättern, als Holzschnitt fertiggestellt. Wieder hatte Kollwitz mit den grafischen Techni- ken gehadert und die Lithografie als nicht aus- drucksstark genug empfunden, um ihr Entsetzen über die Ermordung des Politikers Liebknecht ad- äquat ausdrücken zu können. Begleitet wurde der Einstieg in das für Kollwitz neue Holzschneiden von zeichnerischen Versu- chen, die mit einer wiederholten Verwendung von Tusche das Kontrastreiche des Holzschnitts vorzu- bereiten suchten. Für das Liebknecht-Blatt gibt es dazu ebenso eine Studie (Nagel/Timm WV 781) (Abb. 8) wie für den etwas später entstandenen Abb. 4 Käthe Kollwitz, Die Eltern, 1921/22, Holzschnitt, 355×425 mm, Käthe-Kollwitz-Museum Berlin (Inv.-Nr. KKMB 0234) 50
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