Leseprobe
73 Am 8. August 1911 sandte Ernst Barlach (1870– 1938) dem an einer Publikation über moderne Bild- hauerei arbeitenden Autor Wilhelm Radenberg (1877–1933) sieben seiner Skizzenbücher. Der Künst- ler war zögerlich, da ihm der Gedanke missfiel, dass sich Radenberg »durch das Gestrüpp von halb- fertigen und unverständlichen Zeichnungen arbei- ten müsse [...]«.1 Dennoch erschien es ihm notwen- dig, um zu beweisen, »daß ich nicht etwa meine Art irgendwoher fertig übernommen habe«. Zwar gab Barlach zu, Eindrücke aus verschiedenen au- ßereuropäischen Kulturen erhalten zu haben, »alle bestimmenden Anregungen [stammen aber] aus der Natur«, wie der Künstler betonte.2 Radenberg übernahm in seiner Einführung zum Werk Barlachs die Argumentation des Künstlers. Als wesentliche Information zu dessen Studium an der Dresdner Akademie ergänzte Radenberg eine zitierte Passage aus dem Brief Barlachs, wonach ihn sein Lehrer, »der Bildhauer Diez[,] zum unaus- gesetzten Zeichnen ›Auf der Straße‹« angeregt habe.3 Das zeichnerische Einfangen von alltägli- chen Momentaufnahmen im Skizzenbuch wird auf diese Weise zu einer prägenden künstlerischen Praxis Barlachs stilisiert und als Grundlage seines bildhauerischen Schaffens präsentiert. Ähnlich stellte Barlach selbst die Bedeutung sei- ner Taschenbücher in der 1928 erschienenen Auto- biografie heraus. Hierin maß er seinen Skizzen- büchern eine zentrale Rolle auf dem Weg zu sei- nem künstlerischen Selbstverständnis als (Holz-) Bildhauer bei.4 Den Textteil des Buchs illustrierte er ausschließlich mit Skizzenbuchzeichnungen, die subtil sein noch unbefriedigtes Suchen nach dem plastischen Ausdruck symbolisieren. Mit dem Ein- setzen des neuen Lebensabschnitts in Güstrow ab 1910, wo der größte Teil seines bildhauerischen Œuvres entstand, endet die biografische Erzählung unvermittelt. Es schließt sich ein fotografischer Bildteil mit den bis dato wichtigsten plastischen Arbeiten Barlachs an, der als wortlose Fortführung der künstlerischen Vita zu lesen ist. Quantitativ stellen die rund 11 000 Zeichnungen Barlachs in seinen Skizzenbüchern die größte Werkgruppe im Schaffen des Bildhauers, Grafikers und Dramatikers dar. Hinzu kommen etwa 2 700 au- tonome Zeichnungen, zumeist Entwurfs- und Stu- dienzeichnungen, Illustrationen, Bühnenbilder, Bildnisse sowie Fantasieschöpfungen, die jedoch in diesem Aufsatz nicht näher thematisiert werden sollen. Mit insgesamt knapp 13 700 erhaltenen Zeichnungen gehört Barlach zu den am intensivs- ten zeichnenden Bildhauern seiner Zeit.5 Gemäß seiner Autobiografie interessierte sich Barlach schon als Kind für die Zeichenkunst, aller- dings bereitete sie ihm viel »Mühe«, und er »zeich- nete mit Qual«, da er meinte, sich an traditionellen Idealen orientieren zu müssen.6 Sein Talent als Zeichner stellte er daher immer wieder infrage.7 Dennoch begann der junge Mann 1888 eine Aus- bildung zum Zeichenlehrer an der Hamburger Ge- werbeschule. Den akademischen Zeichenunter- richt, der insbesondere das Kopieren nach antiken sowie klassizistischen Vorbildern beinhaltete, empfand Barlach indes schnell erneut als »wahre Qual«.8 Mehr begeistern konnte er sich für die Mo- dellierklasse und die außerschulischen Aktzei- chenkurse. Er erkannte im Zeichnen nach dem lebenden Modell vor allem eine unverzichtbare Grundlage für das plastische Gestalten. Ausgiebig studierte er deshalb den Körper und seine Anato- mie und trainierte das Zeichnen von Gewändern und Kostümen, wie er einem Jugendfreund berich- tete.9 Seine Studien und Skizzen begann er ab 1889, in einem Skizzenbuch zu sammeln, aus dem er »kein Blatt reiße[n mochte], um nicht die Frucht sämtlicher Arbeiten zu verlieren«.10 Im Frühjahr darauf wechselte Barlach offiziell in die Bildhauerklasse von Theodor Richard Thiele (1859–1935) und übte erstmals das Zeichnen »grö- Abb. 1 Ernst Barlach, Kapitän Kornelius (Taschenbuch Güstrow 1913/I), 16 li/16 re, 1913, Feder, 164×103 mm, Ernst Barlach Stiftung Güstrow (Inv.-Nr. TZ 100), Wittboldt/Laur WV 1250 Abb. 2 Ernst Barlach, [Spielende Kinder] (Skizzenheft 14 [Paris 1895/96]), 24 li/24 re, 1895/96, Bleistift, 157×119 mm, Ernst Barlach Stiftung Güstrow (Inv.-Nr. TZ 16), Wittboldt/Laur WV 93
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