Leseprobe

ßere[r], weniger feine[r] Sachen, die hauptsächlich Gewandtheit, raschen Blick, flotte Behandlung er- fordern«.11 Schon nach wenigen Wochen konnte sich der angehende Bildhauer über die positiven Auswirkungen dieser Übungen beim Modellieren seiner Figuren freuen. Er intensivierte das schnelle Skizzieren von Momentaufnahmen in seinem Ta- schenbuch nach seinem Wechsel an die Königliche Akademie der bildenden Künste zu Dresden 1891. Die Anregung hierzu gab, wie schon eingangs er- wähnt, sein dortiger Professors Robert Diez (1844– 1922). In seiner Autobiografie erinnerte sich Bar- lach, dass ihm Diez »manches väterlich ermun- ternde Wort [gönnte], weniger vor den Atelierleis- tungen als beim Durchblättern der Büchlein mit den Beweisen meines Privatfleißes auf der Straße, in der Kneipe, mit den Zeugnissen meiner Beses- senheit, aus allen Zwischensituationen und den ungebräuchlichsten Blickwinkeln Darstellbares, wenn es nicht anders ging, zu erpressen«.12 Bis Mitte der 1920er-Jahre führte Barlach stets eines der meist kleinformatigen Hefte mit sich, die mit ca. 15 mal 10 Zentimetern optimal in eine Ja- ckentasche passten. Erhalten haben sich insgesamt 73 handelsübliche Taschenbücher sowie 56 meist vom Künstler selbst hergestellte Skizzenhefte.13 Auf unlinierten, linierten oder karierten Seiten fertigte Barlach überwiegend Bleistiftzeichnungen an, die er häufig nachträglich mit Tusche, Aqua- rellfarben oder Farbstiften überarbeitete und prä- zisierte. Seltener kamen Kohle und Kreide zum Einsatz. Thematisch widmete sich Barlach primär der menschlichen Figur, die ihn auch im Bereich der Bildhauerei am meisten interessierte. Gelegentlich zeichnete er Landschaften oder skizzierte Tiere in seinen Taschenbüchern, architektonische Eindrü- cke stellen jedoch eine Ausnahme dar. Seine Mo- tive fand der Künstler sowohl in Beobachtungen alltäglicher Szenen als auch in posierenden Mo­ dellen. Meist hielt Barlach seine Eindrücke mit schnellen Strichen fest, die einander überlagernd die Kontur zu fassen suchen; selten verknappte Barlach eine flüchtige Bewegung gar bis zum Strichmännchen (Abb. 2) . Anderen Blättern verlieh er mit nuancierten Schraffierungen oder lavierten Schattierungen die malerische Plastizität autono- mer Zeichnungen (Abb. 3) . Das Spektrum der zeich- nerischen Qualität in Barlachs Taschenbüchern reicht entsprechend weit. Als der Künstler 1911 eine Auswahl seiner Skiz- zenbücher an Radenberg schickte, wollte er dem Autor vor allem die Authentizität seiner bildhaue- rischen Motive in Abgrenzung zu klassischen Vor- bildern beweisen. Er sah seine Werke weniger durch Kunstströmungen oder Traditionen als durch das wahre Leben beeinflusst. »Wenn Sie hier mei- nen Empfindungen mißtrauen, bitte ich Sie z. B. die Bleistiftskizze in dem russischen Skizzenbuch – die ›fette Bettlerin‹ mit der daraus gewordenen Skulptur zu vergleichen. Ich habe nichts verändert, von dem was ich sah«, beteuerte Barlach.14 Folgt man dieser Aufforderung, überzeugt eine be­ stechende Unmittelbarkeit zwischen den zwei mit schnellem Strich festgehaltenen Bleistiftskizzen (Abb. 4) und dem sorgsam ausgeführten plasti- schen Objekt (Abb. 5) . Der Künstler beobachtete auf seiner Russlandreise 1906 bei einer Bettlerin die Körperhaltung und den fülligen Bauch, der durch die nur im oberen Bereich geschlossenen Mantelknöpfe wie durch einen Theatervorhang inszeniert wurde. Während die Frau in den beiden Skizzen jedoch den Blick abwendet bzw. ihn leicht senkt und ihre Schale nicht erkennbar ist, ver- änderte Barlach in der plastischen Ausführung einige Details: Er hob die linke Schulter der Figur, um ihren Arm auf dem aufgestellten Knie ruhen zu lassen. In der nun frontal herabhängenden Hand hält die Bettlerin ihre Schale, die in den Vordergrund gerückt wird und die Grenze zwi- schen den Betrachtenden und der Bettlerin mar- kiert. Durch die starke Neigung der Schale, die so keinerlei Münzen aufnehmen kann, und den leicht Abb. 3 Ernst Barlach, [Selbstporträt] (Taschenbuch 17 [Friedrichroda/Paris 1895]), 31 li/31 re, 1895, Feder über Bleistift, teils laviert, 169×103 mm, Ernst Barlach Stiftung Güstrow (Inv.-Nr. TZ 7), Wittboldt/Laur WV 74 74

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