Leseprobe
76 angehobenen Blick, der in die Ferne schweift, ver- lieh Barlach der Steingutfigur eine selbstbewusste Haltung, die in den Skizzen noch nicht angelegt ist. Die in der ›Natur‹ vorgefundene Inspiration wurde mit minimalen – aber entscheidenden – Modifikationen in ein Kunstwerk überführt. Der von Barlach gegenüber Radenberg sugge- rierte Eindruck, dass es sich dabei um eine für den Künstler typische Vorgehensweise handele, täuscht indes: Eine derart unmittelbare Übertragung einer zeichnerisch fixierten Beobachtung aus dem Leben in das bildhauerische Werk muss als fast singuläre Ausnahme imŒuvre Barlachs gelten. Lediglich für seinen sieben Jahre später zu datierenden »Kapi- tän Kornelius« lässt sich eine vergleichbare Nähe zwischen der raschen Federzeichnung im Skizzen- buch (Abb. 1) und der kurz darauf erfolgten plasti- schen Ausführung derselben feststellen. Als weitere Beispiele für direkte Inspirationen nach der Natur können allenfalls verschiedene Porträtzeichnungen angeführt werden, die der Künstler in seinen Skizzenbüchern festhielt und die ihm – meist allerdings in abgewandelter Form – als Vorlage für Bildnisreliefs, Masken oder Büsten der Porträtierten dienten. Vereinzelt finden sich fer- ner Detailstudien, beispielsweise von Armhaltun- gen oder Schwertern, die als Teilelemente Eingang in Skulpturen oder Plastiken Barlachs fanden.15 Die knapp 11 000 Zeichnungen der erhaltenen Skizzenbücher sind nicht mit der Intention ge- schaffen worden, konkrete Vorlagen für plastische Werke zu sammeln. Mit ihnen schuf sich Barlach jedoch ein umfassendes Depot an Motiven, Bewe- gungen und Figurentypen, das meist auf zufälligen Momentaufnahmen basierte und das er in ver- schiedensten Medien beliebig variieren und wei- terentwickeln konnte. Nachträgliche Überarbei- tungen oder schriftliche Bemerkungen zu den Zeichnungen belegen, dass Barlach die Skizzenbü- cher immer wieder zur Hand nahm.16 Wichtig war ihm aber auch der Prozess des Zeich- nens selbst, wie aus den schon zitierten Brief- und Buchpassagen hervorgeht.17 Vor allem zu Beginn seines Bildhauerstudiums verstand Barlach dieses Training als hilfreiche Vorbereitung für das plas- tische Schaffen, obgleich sich in seinen Skizzen- buchzeichnungen nur selten ein dezidiert bild- hauerischer Blick auf die Sujets feststellen lässt. Zwar weisen die Darstellungen immer wieder ver- schiedenperspektivische Ansichten auf, meist ge- hen diese jedoch nicht mit einer gezielten Volu- menerfassung einher (Abb. 6) . Auch in seinen auto- nomen Zeichnungen suchte Barlach nicht »eine körperlich-plastische Situation zu klären, Über- schneidungen der Gliedmaßen zu probieren oder ähnliche rein praktisch-gestalterische Probleme zu lösen, wie dies allgemein von der Bildhauerzeich- nung bekannt ist«, stellte Anita Beloubek-Hammer fest.18 Das unermüdliche Skizzieren im Taschen- buch diente vielmehr der kontinuierlichen Übung Abb. 7 Ernst Barlach, [Sitzende in Drauf- sicht] (Taschenbuch 20 [Dresden 1894]), 1 li/1 re, 1894, Feder teils über Bleistift, teils laviert, 168×104 mm, Ernst Barlach Stiftung Güstrow (Inv.-Nr. TZ 5), Wittboldt/Laur WV 69 Abb. 6 Ernst Barlach, [Sitzender] (Taschenbuch 18 [Dresden 1892]), 27 li/27 re, 1892, Feder über Bleistift, 166×103 mm, Ernst Barlach Stiftung Güstrow (Inv.-Nr. TZ 1), Wittboldt/ Laur WV 52
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