Leseprobe

77 und Verinnerlichung von Körperhaltungen und Bewegungen sowie der Sensibilisierung für über- raschende Motive und Blickwinkel (Abb. 7) . Darüber hinaus kann festgestellt werden, dass Barlach seine Skizzenbücher nicht nur nutzte, um in der Natur Gesehenes festzuhalten, sondern auch, um Ideen für plastische Arbeiten oder Ge- fäße zu notieren.19 Neben nicht realisierten Ein- fällen lassen sich für rund zehn Prozent seiner bildhauerischen Werke Entwürfe in seinen Ta- schenbüchern ausmachen, die von groben Kompo- sitionsskizzen bis zu präzisen Detailzeichnungen reichen. Auch Dekorentwürfe, teilweise aus der Natur abgeleitet, sind zahlreich vertreten. Die in den Skizzenbüchern am intensivsten vor- bereitete Arbeit ist die Plakette für Justus Brinck­ mann (1843–1915), die Barlach 1902 anlässlich des 25-jährigen Dienstjubiläums des Museumsdirek- tors fertigte. Barlachs Taschenbuch aus demselben Jahr gibt Aufschluss über die Arbeitsweise des Künstlers und den hohen Stellenwert der vorberei- tenden Zeichnungen in den Skizzenbüchern: An- fang April 1902 scheint Barlach – in Vorbereitung auf die Aufgabe – erste Ideen für eine zunächst runde Plakette entwickelt zu haben, die er als schnelle Skizzen in ihrer ungefähren Struktur fest- hielt (Abb. 8) . Unter den verschiedenartigen Ent- würfen auf dem Blatt fallen die beiden oberen Skizzen am linken Bildrand auf, die jeweils im Zentrum das Brustbildnis eines bärtigen Manns im Profil zeigen. Um das Bildnis herum ist ein Streifen abgesetzt, der als Inschrift anzunehmen ist. Beide Skizzen ähneln sich stark. In der unteren korri- gierte Barlach jedoch bereits die Gesichtskontur mit einer sich verstärkenden Linie. Daneben zeich- nete er den einzig rechteckigen Plakettenentwurf dieser Seite, in welchem das Profilbildnis auf einem Sockel zu ruhen scheint und so einen statuarischen Charakter erhält. Während Barlach die Idee des Sockels und der ungewöhnlichen Rahmung direkt wieder verwarf, behielt er die rechteckige Form der Plakette bei, wie ein konkretisierender Ent- wurf wenige Seiten später belegt.20 Auf der hoch- formatigen Plakette ist das Profilbildnis, das an drei Seiten von angedeuteten Inschriften gerahmt wird, über einem hier noch leeren Sockelfeld an- gelegt. Eine Seite darauf präzisierte Barlach diesen Entwurf (Abb. 9) , arbeitete das Bildnis Brinck­ manns – vermutlich nach fotografischer Vorlage – näher aus und füllte die Sockelzone mit einer Landschaftsdarstellung, die im Zentrum den Vul- kan Fujiyama – als Verweis auf die Sammlungs­ tätigkeit Brinckmanns im Bereich der japanischen Kunst – zeigt. Bei der späteren Ausarbeitung des Gipsmodells übernahm Barlach die grundlegende Komposition. Die klare Trennung, die in der Zeich- nung noch zwischen der Sockelzone und dem Por- trät existiert, hob er dabei indes auf. Auch das Bild- nis Brinckmanns überarbeitete Barlach deutlich. Grundlage für das plastische Porträt waren die zahlreichen Zeichnungen, die Barlach wohl bei zwei persönlichen Treffen mit Brinckmann anfer- tigte. Eine erste, auf Augen- und Nasenpartie kon- zentrierte Profilansicht Brinckmanns skizzierte Barlach am 3. oder 4. Juni 1902 in sein Taschen- buch (Abb. 10) . Die zarte, schnelle Zeichnung wirkt wie das Ergebnis einer flüchtigen Begegnung, bei der Barlach den Museumsdirektor mit wenigen Strichen aus leichter Rückenansicht festhielt. Ein- einhalb Monate später dürfte Brinckmann Barlach Modell gesessen haben, denn es entstand eine Se- rie von über 50 Zeichnungen, in denen der Künst- ler das Profil Brinckmanns präzise zu erfassen oder auswendig zu lernen suchte, wie er an ande- rer Stelle einmal formulierte.21 Mit schneller, schwungvoller Linienführung fertigte Barlach – das Heft mal im Hoch- und mal im Querformat ausgerichtet – meist mehrere Zeichnungen pro Seite. Auffällig ist dabei, dass sich Barlach zu- nächst mit den grundlegenden Formen, insbeson- dere mit der Gesichtskontur und der Wangen­ partie, auseinandersetzte (Abb. 11) . Der Binnen- zeichnung widmete sich Barlach erst sukzessive, nachdem er die markanten Charakteristika der Physiognomie Brinckmanns verinnerlicht hatte. Abb. 8 Ernst Barlach, [Entwürfe für eine Plakette] (Taschenbuch Wedel 1902), 14 li/14 re, 1902, Bleistift, 168×111 mm, Ernst Barlach Stiftung Güstrow (Inv.-Nr. TZ 21), Wittboldt/Laur WV 304

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